83 Sekunden Unbekanntschaft

Du und ich, wir begegnen uns gerade das einzige Mal in unserem Leben.

Du sitzt im Zug auf dem Gleis nebenan, schräg gegenüber von mir. Es ist fast Nacht draußen, eine von denen, in denen man nicht allein sein möchte, eine von denen, die besonders dunkel, aber nicht unbedingt kalt sind, ein leichter Nieselregen vielleicht, auf jeden Fall Wolken am Himmel, kein Mond – so eine Nacht wird das.

Die Lichter in deinem Zug und in meinem Zug brennen hell, aber unfreundlich, und ich kann dein Gesicht eingehend betrachten. Du wirkst ein wenig angespannt, die Stirn leicht gekräuselt starrst du zu mir herüber und siehst mich wahrscheinlich trotzdem nicht. Mit deinem halbkurzen braunen Haaren, die dir leicht ins Gesicht fallen, und deinem Casual-Look bist du zwar nicht unbedingt eine Schönheit, aber auch nicht hässlich, eher der Durchschnitt. Dafür zuckt ein angedeutetes Lächeln um deine Mundwinkel. Irgendwie macht genau das dich interessant.

Ich glaube, wenn ich bei dir säße, dann hättest du einen strahlenden Charakter, farbenfroh und glänzend. Du würdest mir etwas erzählen und ich würde deine Stimme mögen. Ich stelle sie mir vor, warm und weich, sehr angenehm.

Ich weiß nicht wirklich wie alt du bist und ehrlich gesagt bin ich ziemlich schlecht im Schätzen. Deshalb bist du jetzt 21, nur ein Jahr älter als ich, studierst bestimmt, sagen wir BWL. Das studieren die meisten.

Du hörst Musik, so wie ich, und ich frage mich, was bei dir gerade läuft. Bei mir ist es „Titanium“ von David Guetta und SIA, Lautstärke 13 – einerseits, weil das meine Lieblingszahl ist und andererseits, weil das nur so laut ist, dass ich noch mitbekomme, was um mich herum geschieht. Ich gehe einfach davon aus, dass du jetzt das selbe auf gleicher Lautstärke hörst, auch wenn mir bewusst ist, wie unwahrscheinlich das ist.

Du kaust ein wenig auf der Innenseite deiner Unterlippe herum als seist du tief in Gedanken und ich frage mich, woran du gerade denkst – deine Familie, deine Freunde, dein BWL-Studium…

Wohin willst du eigentlich? Ich kann die Anzeigetafel auf deinem Bahnsteig nicht sehen, also gehe ich davon aus, dass du nach Berlin fährst. Wir befinden uns auf der Strecke zwischen Dresden und Hamburg, du in die eine Richtung, ich in die andere. Berlin, du willst nach Berlin. Das liegt auf der Strecke und viele wollen nach Berlin. Ich will nach Hamburg.

Unsere Züge stehen genau eine Minute und dreiundzwanzig Sekunden nebeneinander, dann fährt meiner ab. Ich drehe den Kopf nicht, verliere dich aus dem Blickfeld. Wahrscheinlich hast du mich gar nicht wahrgenommen und wir werden uns nie wieder begegnen, aber so wie ich dich in den letzten 83 Sekunden kennengelernt habe, so mag ich dich.

Das wollte ich dir nur sagen.

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© Arina Kirey 2015