ein selbst geschenktes Lächeln

Der Korb meines Fahrrades klapperte unbeständig unter der Last meines Schulranzens, während ich die Holpersteinstraße entlang radelte. Das hier war mein erster Tag, mein erster Tag an der großen, neuen Schule in der neuen, aber dennoch sehr alten Stadt, in die meine Familie gezogen war.

„Schau nicht so bedrückt!“, bat Arvin neben mir. „Vielleicht findest du hier ja endlich Anschluss!“

Arvin – so wie Marvin, nur ohne M – Arvin war mein bester Freund, schon immer. Ich hatte ihn damals kennengelernt, als ich in der Grundschule keine Freunde fand, seitdem waren wir unzertrennlich. Er hatte auf dieselbe weiterführende Schule gewechselt wie ich und obwohl diese neue Stadt viele Kilometer von der alten entfernt lag, war er auch jetzt mit mir gekommen. An meiner vorherigen Schule hatten alle ein wenig Angst vor ihm gehabt, aber das war dumm von ihnen gewesen. Arvin war der liebste Mensch, den ich kannte.

„Ich brauche keine Freunde“, entgegnete ich. „Ich habe doch dich!“

„Ja, aber meinst du nicht, dass du auch mal richtige Freundinnen bräuchtest?“, fragte er. „Sie wären sicherlich nett.“

„Ich brauche nur dich, Arvin“, entgegnete ich und wir fuhren gemeinsam auf den Schulhof.

Wir waren ein wenig spät dran, so wie immer hatte ich beim Frühstück zu lange getrödelt, und es waren nur noch wenige Schüler auf den Hof, die es anscheinend derartig eilig hatten, in ihre Klassen zu kommen, dass ich wohl niemanden finden würde, der mir den Weg in meine zeigte.

„Beeil dich, Svennie!“

Arvin, der sein Fahrrad schon längst abgestellt hatte, sah mir dabei zu, wie ich meines abschloss und mir den Ranzen über die Schulter warf. Gerade war ich dabei, auf das Hauptgebäude der Schule zuzueilen, um im Sekretariat nachzufragen, wohin ich gehen sollte, als ein Junge auf den Hof geradelt kam, sich hastig vom Sattel schwang und dabei ein anderes Fahrrad umstieß – Arvins Fahrrad.

„Hey!“, rief ich empört, denn er schien nicht die Absicht zu haben, es wieder hinzustellen.

Verdutzt hob der Junge den Kopf, erblickte mich und zog sich dann einen Kopfhörer aus dem Ohr.

„Hast du was gesagt?“, fragte er uninteressiert.

Ein wenig wütend über seine Unverschämtheit wollte ich bereits zu einer Antwort anheben, doch Arvin unterbrach mich.

„Schon in Ordnung, Svennie. Frag ihn lieber nach dem Weg, der scheint genauso alt wie du zu sein!“

„Ähm“, setzte ich an, eigentlich viel zu eingeschnappt, um diesen Jungen um einen Gefallen zu bitten. „Weißt du, wo die 9c ist?“

Der Junge zuckte nur mit den Schultern, überhaupt schien er allgemein unhöflich und ignorant zu sein, denn er beachtete Arvin genauso wenig wie sein Fahrrad, das der gerade wieder hinstellte.

„Du bist also diese Neue“, meinte er. „Glück gehabt. Ich bin auch in der 9c. Kannst ja mit mir mitkommen.“

 

Ich saß am Fenster des Raumes, Arvin hatte nahe dem Lehrertisch einen Platz gefunden und ich hatte ein ungutes Gefühl dabei, ihn nicht direkt bei mir zu haben. In der alten Schule hatte er immer neben mir gesessen und niemand hatte es gewagt, sich mir zu nähern, wenn er da war. Aber hier schien niemand Angst vor ihm zu haben, keiner wich in der Pause vor ihm zurück, als er zu mir herüberkam.

„Und, wie gefällt es dir hier?“, wollte er lächelnd wissen. „Die anderen sind nett, oder?“

Ich nickte nur.

„Hey, Svenja!“

Der unfreundliche Junge, der mir am Morgen den Klassenraum gezeigt hatte, drängelte sich hämisch grinsend an Arvin vorbei zu mir durch.

„Ich habe da so was von deiner alten Schule gehört. Arvin soll ja ein ziemlich gruseliger sein!“, spottete er. „Willst du ihn mir nicht mal vorstellen?“

„Lass sie in Ruhe, Idiot!“

Ein paar Mädchen hatten sich zu uns hinübergeschoben, um den Jungen zur Seite zu stoßen und sich schützend vor mir aufzubauen. Noch nie hatte sich jemand für mich auf diese Weise eingesetzt, noch nie hatte sich jemand daran gestört, dass ich geärgert wurde – niemand außer Arvin und vielleicht hatten deshalb alle Angst vor ihm gehabt.

„Tut uns Leid, dass diese Idioten in unserer Klasse sich immer gleich von ihrer schlechtesten Seite zeigen müssen!“, wandte sich eine von ihnen an mich, während der Junge sich grummelnd zurückzog. „Alles in Ordnung?“

„Ja, danke“, brachte ich unsicher hervor und das Mädchen lächelte sanft.

„Ich bin Nelly. Hast du Lust, nach der Schule mit uns in die Stadt zu gehen? Wir wollen ein Eis essen.“

Zögernd warf ich einen Blick zu Arvin hinüber und war mir sicher, dass sein Nicken ermutigend sein sollte.

„Ja, danke“, brachte ich noch einmal hervor. „Ich bin Svenja.“

„Dann ist es abgemacht?“, fragte Nelly fröhlich. „Wir treffen uns nachher vor dem Gebäude. Ich muss vorher noch kurz zum Lehrerzimmer.“

 

Es klingelte und sofort brach Unruhe im Klassenzimmer aus, Stühle wurden gerückt, Bücher zugeschlagen und der Lehrer gab es auf, die Oberhand zurückgewinnen zu wollen. Ich ließ mich von der Eile der Klasse nicht mitreißen, schob langsam den Stift in meine Federtasche und steckte sie dann in den Schulranzen. Als ich mir meine Jacke anzog, war ich bereits die Letzte im Raum, nur Arvin lehnte noch an der Wand neben der Tür – geduldig wie immer. Das war es, was ich an ihm mochte, er sorgte sich immer um mich, war immer für mich da und genau deshalb brauchte ich nur ihn. Ich wusste, dass er mich niemals enttäuschen würde.

„Kommst du?“, fragte er und ich durchquerte den Raum, um mit ihm hinauszugehen.

Schweigend stiegen wir die Treppen ins Erdgeschoss hinunter und ich steuerte schon auf die Tür zum Hof an, als Arvin innehielt.

„Du hast nicht vor, mit Nelly und ihren Freundinnen zu gehen, nicht wahr?“

Nein, ich hatte nicht vorgehabt, mit dem Mädchen in die Stadt zu gehen, zumindest nicht mehr. Ich hatte nicht den Mut dazu, ich wollte den Mut dazu auch gar nicht haben – ich brauchte ihn nicht. Ich hatte schließlich Arvin und es gab einfach keine anderen Menschen, die mich so verstehen würden, wie er es tat.

„Arvin“, begann ich, doch er brachte mich mit einem knappen Kopfschütteln zum Schweigen.

„Du brauchst diese Mädchen, Svennie!“, sagte er. „Sie wollen deine Freundinnen werden, richtige Freundinnen! Du warst so lange allein und das ist deine Chance, dazu zu gehören. Lass sie nicht fallen!“

Ich zögerte, obwohl ich wusste, dass er Recht hatte. Doch, wollte ich das? Wollte ich überhaupt andere Freunde außer Arvin haben? Andererseits würde er nie etwas behaupten, das nicht gut für mich wäre. Ich vertraute ihm, er war stets meine wichtigste Unterstützung gewesen, das würde sich auch jetzt nicht ändern.

„Na gut“, gab ich schließlich nach. „Ich werde mit ihnen gehen. Außerdem warten sie bestimmt schon. Dann kann ich dich ihnen gleich vorstellen.“

„Nein, Svennie. Du wirst allein gehen.“

Irritiert sah ich ihn an. Etwas stimmte nicht. Wir waren immer und überall zusammen gewesen, nie getrennt. Weshalb wollte er dann jetzt nicht mit mir kommen, das ging gar nicht. Wir gehörten doch zueinander, uns konnte man nicht trennen.

„Aber ich brauche dich, Arvin“, stammelte ich. „Du bist doch mein bester Freund. Komm mit, bitte!“

„Nein“, entgegnete er noch einmal und strich mir dann beruhigend mit einer Hand durchs Haar. „Du kannst das auch ohne mich schaffen!“

„Warum?“, wollte ich beinahe verzweifelt wissen, denn das hier war eindeutig zu viel für mich. Wie sollte ich etwas Derartiges ohne Arvin überstehen?

„Warum?“, wiederholte er als wäre es die dümmste Frage, die ich ihm jemals gestellt hatte. „Ich bin nicht wie die anderen, Svennie!“

 

Ich trat auf den Schulhof hinaus. Das warme Licht der Sonne erfasste mein Gesicht und trocknete die letzte Träne von meiner Wange, noch bevor ich den Weg zum Tor des Hofes gegangen war, wo Nelly und ihre Freundinnen auf mich warteten.

„Svenja, da bist du ja endlich!“, rief Nelly mir fröhlich entgegen und ich erwiderte ihr Lächeln vorsichtig, bevor ich über die Schulter zurückblickte.

Arvin stand auf der Treppe zum Hauptgebäude und nickte zufrieden, während er sich aufzulösen schien, Stück für Stück durchsichtiger wurde.

„Ich bin nicht wie die anderen, Svennie“, formten seine Lippen ein letztes Mal. „Ich bin nicht real!“

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