Räder der Zeit

Lautes Gegröle, ferne Musik, ein Hauch von Qualm in der Luft.

Bunt sind die Straßen, die Häuser, die Menschen, mein Atem.

Mit jedem Atemzug, den ich tue, nehme ich die Heiterkeit auf. Sie ist überall und allmählich beginnt sie auch mich auszufüllen, wie ich meinen Weg durch die Stadt nehme. Meinen Weg, der Weg, der mir diese gewisse Vertrautheit bietet. In irgendeiner Weise ist er ein Teil meiner kleinen, eigenen Welt.

Ich gehe nicht alleine und doch irgendwie schon. Aber die Heiterkeit, die ich einatme, die besitzen hier alle.

Es ist Karneval in der Stadt und ich bin einer der Menschen, die traditionell auf Karnevalfeiern gehen. Genauso wie jedes Jahr der Neujahrstag um 0.00 Uhr beginnt, gehe ich jeden Karneval auf eine Feier.

Mein Weg und meine Heiterkeit tragen mich bis zu Funkenmariechens Haus.

Die Musik ist nun so nah, dass ich nach ihr greifen würde, wenn man sie in Händen halten und mit sich nehmen könnte, um sie später vielleicht noch einmal anzuhören.

Leider kann man Musik genauso wenig mit den Händen einfangen wie einen Stern von Himmel holen. Es ist unmöglich und doch hat man immer wieder den Drang danach, obwohl man weiß, dass man weder Musik noch Sterne in den Armen tragen kann.

Der Gedanke macht mich manchmal traurig, aber nur manchmal.

Ich gehe den Gartenweg hinauf und drücke den Klingelknopf neben Funkenmariechens Haustür.

Das durchdringende Schrillen zerrt an meinen Ohren. Ich mag es nicht.

Bei Funkenmariechen ist das anders. Sie mag die Klingel, mag ihren wilden Garten, mag die unerträgliche Schwüle im Sommer und die drückende Kälte im Winter. Sie mag es, andere Wege zu gehen, jeden Tag einen neuen und sie mag den Sonnenuntergang, weil sie genau weiß, dass danach die Nacht anbricht und nach der Nacht der Tag wiederkommt.

Funkenmariechen liebt es, nach den Sternen zu greifen, immer und immer wieder und sie wird auch nicht traurig davon.

Aber sie greift nicht nach Musik, sie hört sie einfach.

Die Tür wird aufgerissen, lautes Geschnatter schlägt mir entgegen.

„Da bist du ja endlich!“, ruft sie, packt mich am Arm und zerrt mich hinein.

Ich sage darauf erst einmal nichts. Funkenmariechen würde mir zwar zuhören, doch die Musik ist hier drinnen so laut, dass selbst ich meine Worte nicht mehr vernommen hätte.

Also schweige ich, sie nickt mir zu, schließt die Tür und schubst mich in das Wohnzimmer. Funkenmariechen hat einige Freunde eingeladen, mit denen ich nie zu tun habe.

Doch, wie sie nun einmal ist, schafft ihre Anwesenheit im ganzen Zimmer ein Gefühl von Geborgenheit, das mich dazu bringt, selbst diese fremden Freunde auf Anhieb zu mögen.

Zusammen haben wir immer Spaß, Funkenmariechen und ich, wir beide und alle anderen, die bei uns sind.

Es gibt Alkohol, zu Karneval gibt es bei ihr immer Alkohol. Ich habe es noch nie anders erlebt.

Allerdings habe ich auch noch nie wo anders gefeiert.

Funkenmariechen ist ein Mensch, der, sobald er etwas sagt, die Herzen derer berührt, die zuhören.

Wenn sie lacht, habe ich immer das düstere Gefühl, mein eigenes zu verlieren, weil sie mir so nah ist, aber ich ihr so fern.

„Die Räder der Zeit bleiben niemals stehen!“, hat sie mir einmal gesagt, doch ich war mir sicher, dass es bei ihr anders wäre.

Würde Funkenmariechens Leben beschließen, sich zur Ruhe zu setzten, würden auch für alle anderen die Räder der Zeit stehen bleiben und zwar für immer.

Der Abend nimmt seinen Lauf, der Alkohol wird getrunken, Funkenmariechen beeinflusst unser aller Denken durch ihre Anwesenheit und ich werde langsam müde. Ich werde von Alkohol immer müde.

Irgendwann schlafe ich auf dem Sofa ein. Als ich aufwache, sind die fremden Freunde schon nach Hause gegangen, ihren Weg entlang.

Funkenmariechen steht in der Wohnzimmertür, schaut mich an und fragt: „Soll ich dich zu deiner Wohnung bringen? Mit dem Auto?“

Erst will ich lieber meinen Weg gehen, doch als ich aufstehe und ins Wanken gerate, stimme ich stumm zu.

In ihrem Auto läuft das Radio, die leise Musik umschmeichelt meine Ohren, während Funkenmariechen dazu singt. Wir haben es nicht weit bis zu meiner Wohnung, aber die Straße führt an einem Wald vorbei. Der Alkohol hat sie hemmungslos gemacht. Funkenmariechen brettert über die Holpersteinstraße und übersieht einen umgestürzten Baumstamm.

Im nächsten Augenblick liegt das Auto auf der Seite, die Scheiben bersten, der Gurt presst mich gegen den Sitz, der Airbag nimmt mir beinahe den Platz zum Atmen.

Nur die Musik umschmeichelt weiterhin meine Ohren.

Ein Zischen, die Luft weicht aus dem Airbag und Funkenmariechens Gesicht wird verschwommen sichtbar. Sie hält eine Glasscherbe in der Hand und lächelt mich an, obwohl aus ihrem Mund Blut tropft und viele kleine Schnittwunden ihr Gesicht übersähen.

Sie lächelt immer noch, nachdem sie den Malteser Hilfsdienst mit dem Handy angerufen hat und auch noch, als wir aus dem Auto geklettert sind.

Aber sagen tut sie nichts.

Ich auch nicht.

Mein Handgelenk ist gebrochen, Funkenmariechen kommt mit einigen Prellungen und Schnittwunden davon. Außerdem hat sie sich auf die Zunge gebissen, aber nicht allzu schlimm.

Selbst jetzt ist unser Atem, den wir ausstoßen, noch bunt. Eine seltsame Heiterkeit erfüllt uns, ein Hauch von Qualm liegt in der Luft. Aus dem Auto erklingt noch immer die sanfte Musik und Funkenmariechen reckt die Arme in den Himmel.

„Weißt du“, flüstert sie. „Wenn die Räder der Zeit doch irgendwann einmal anhalten sollten, dann fange ich die Musik ein und tue sie in einen Stern, damit ich dir beides schenken kann....“

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© Arina Kirey 2015