Zeitlos

Leseprobe

Mein erster Blick an jenem Morgen galt dem Wecker, nicht, weil er dort jeden Morgen hin wanderte, wenn ich die Augen aufschlug, sondern, weil ich den unglückseligen Verdacht hegte, etwas verpasst zu haben.

Die Zeiger standen in einer beinahe perfekten Linie, vielleicht in einem Winkel von 179° - es war beinahe viertel nach neun und ein Sonnabend, weshalb es gar nicht sein konnte, dass ich irgendetwas verpasst hatte. An Sonnabenden legte ich nie einen Termin vor ein Uhr, schon deshalb, weil ich ausschlafen wollte. Ich war ein Morgenmuffel und keiner meiner Freunde konnte mich vor zwei Bechern pechschwarzen Kaffees und einem ausgiebigen Frühstück ertragen. Wahrscheinlich lebte ich genau deshalb allein in einer Zweizimmerwohnung, nur meine Katze Izu hielt es sieben Tage die Woche vierundzwanzig Stunden mit mir aus, ohne sich über meine Launen am frühen Morgen zu beschweren. Sie hielt mich sogar noch besser aus als ich selbst, weshalb ich mich auf die andere Seite umdrehte, um noch ein wenig zu dösen.

Doch das Gefühl, etwas sei in Vergessenheit geraten und ich hätte es nun unwiderruflich an mir vorbeiziehen lassen, ohne daran teilzuhaben, ließ mich nicht los und so schlug ich die Decke zurück, um ins Bad zu schlurfen.

Im Spiegel über dem Waschbecken erwartete mich – wie sollte es auch anders sein – kein über Nacht gewordener Superheld mit klaren Kanten, stahlblauen Leuchtaugen und perfekt gestyltem Goldhaar, sondern ein leicht rundliches mit dunklen Bartstoppeln umrandetes und vollkommen mürrisches Gesicht, um nicht zu sagen: mein Gesicht.

„Alter Schafskopf“, begrüßte ich mein Spiegelbild. „Siehst wieder fantastisch aus heute.“

Ich rang mir ein bemitleidenswertes selbstaufmunterndes Lächeln ab, das meine Laune zwar nicht sonderlich hob, aber wenigstens das einzige an mir offenbarte, das einem Superhelden würdig war – meine übertrieben weißen Zähne, die dank einer Zahnspange, für die ich in der Unterstufe hemmungslos gemobbt worden war, eine säuberliche Reihe bildeten.

Ich griff zum Kamm, zähmte meine vom Schlafen zerknautschten Locken und spülte mir den Mund aus. Dann schlurfte ich in die Küche, wo mich bereits Izu erwartete und mich mit lauten Schnurren und Um-die-Beine-Streifen darauf hinwies, dass sie Futter benötigte. Als ich mich jedoch nicht gleich daran machte, ihren Napf mit Dosenfleisch zu füllen, und stattdessen erst einmal die Kaffeemaschine einstellte, stieß sie ein empörtes Maunzen aus, das – hätte ich Kätzisch verstanden – sicherlich etwas wie „Mats! Hunger! Kümmere dich um mich! Sofort!“ bedeutete.

Seufzend zog ich den Kühlschrank auf, jedoch nicht ohne vorher einen Blick auf den an seiner Tür hängenden Kalender geworfen zu haben. Nein, auch dort hatte ich mir bis auf ein einziges „L“ um 15 Uhr für den heutigen Tag nichts eingetragen, kein Geburtstag eines Freundes, kein Abgabetermin für eine Hausarbeit. Ich öffnete eine Dose Katzenfutter und befüllte Izus Schüssel damit, die sich schnurrend daran machte, ihr Frühstück zu verschlingen.

„Katze müsste man sein, Izu“, flüsterte ich ihr zu, kniete mich neben sie und strich ihr über den schmalen Kopf. „Du hast es gut. Den ganzen Tag schlafen und gekrault werden und zwischendurch eine leckere Mahlzeit. Du hast bestimmt keine Sorgen, oder?“

Sie warf mir einen treuen, aber doch ein wenig spöttisch wirkenden Blick aus ihren Smaragtaugen zu, liebkoste kurz meine Hand und machte sich zog sich dann auf die Couch zurück, um sich ausgiebig zu putzen. Ja, Katze müsste man sein...

 

Für den Nachmittag hatte ich eine Verabredung mit meiner Cousine Lynn, die erst vor kurzem an der großen Universität der Stadt den Masterstudiengang in Biochemie begonnen hatte und nun in die Stadt gezogen war, und da ich ihr einziger Bekannter hier war, sollte ich ihr nun beim Einleben behilflich sein. Das war nur deshalb kein Problem, weil sie die einzige in meiner Familie war, mit der ich nicht gebrochen hatte, nachdem ich auf unschönste Weise erfahren hatte, dass ich ein Adoptivkind war. Man hatte mir diese Tatsache quasi als einziges Geschenk zur Volljährigkeit zukommen lassen – überbracht von meinem betrunkenen Onkel – und danach waren meine Eltern zu feige gewesen, mit mir darüber zu sprechen. Da sie keinerlei Anstalten gemacht hatten, überhaupt jemals wieder ein ehrliches Wort zu mir zu sagen, hatte ich beschlossen, dass es wohl besser wäre, gar nicht mehr mit ihnen zu reden, bevor sie sich in Lügen und Ausreden verstrickten.

Lynn hatte eine Wohnung am anderen Ende der Stadt gemietet und weil sie sich noch nicht auskannte, ein Ladencafé in ihrer Nähe als Treffpunkt vorgeschlagen.

Ich war spät dran.

Wie immer war ich aus dem Treppenhaus noch einmal in die Wohnung zurück gerannt, weil ich etwas vergessen hatte – in diesem Falle mein Portemonnaie – und wie immer hatte ich daraufhin die letzte U-Bahn verpasst, die mich rechtzeitig ans Ziel gebracht hätte. Ich hatte den Rücklichtern des Zuges noch hinterher schauen können, wie sie um die nächste Tunnelecke verschwanden und hatte dann gezwungenermaßen mit Seitenstichen auf den nächsten warten müssen, in den ich dann immernoch schwer atmend gesprungen war und nun ungeduldig darauf wartete, dass er durch die Finsternis unter der Stadt ratterte. Dieses Procedere wiederholte sich beinahe jeden Tag und obwohl man meinen könnte, dass ich bei so viel Stress und Gerenne wenigstens sportlich sein müsste, war ich ein dicklicher Schlappschwanz – was nicht nur daran lag, dass ich zwei ganze Jahre meines jugendlichen Lebens mit Computerspielen vergeudet hatte, sondern auch daran, dass ich stets nur das Nötigste tat und das Nötigste war nun einmal nicht viel. Man könnte auch sagen: Ich war ein Loser, ein Nerd, ein kleiner dicker Student.

Die U-Bahn-Linie, die ich genommen hatte, fuhr quer durch die Stadt, von einem Ende zum anderen, sodass ich nicht umsteigen musste, doch mit jeder Station, die ich dem Ziel näher kam, wurde ich unruhiger. Lynn wartete nicht gerne.

Endlich an der richtigen Station angekommen sprang ich aus dem Wagon, drängelte ich mich durch den überfüllten Bahnsteig und hatte schon fast die Treppen nach oben erreicht, als mich jemand am Handgelenk packte.

Erstaunt und ungehalten zugleich wandte ich mich um.

„Es tut mir Leid, wenn ich Sie angerempelt habe! Tut mir Leid! Ich habe es eilig!“, spuckte ich meine Standartworte für solche Fälle aus, denn ich machte mich öfters in Menschenmengen unbeliebt. Doch derjenige, der mich gepackt hatte, stand nicht hinter mir und ich brauchte eine kurze Sekunde der Verblüffung, bis ich realisierte, dass derjenige kleiner als ich war – er saß am Boden.

Angewidert versuchte ich die Hand des greisen Obdachlosen abzuschütteln, aber sein Griff war fest und ich war auch nicht unbedingt der Stärkste.

„Lassen Sie mich los!“, zischte ich ihn wütend an. „Ich habe kein Geld für Sie!“

„Du!“, stieß er aus, blankes Entsetzen im Gesicht. „Du hast gar keine Zeit!“

„Danke, dass weiß ich selbst!“

Ich riss mich los und spurtete die Treppen auf die Straße hinauf.

„Du hast keine Zeit, Junge!“, hörte ich den Alten noch hinter mir her rufen und legte noch einen Schritt zu, um möglichst schnell von ihm weg zu kommen. Vor solchen Verrückten musste man sich in Acht nehmen. Andere Passanten nutzten eine derartige Situation gerne aus, um einem in dem Gedränge die Taschen zu leeren. Automatisch fuhr ich mit den Händen in die Hosentasche, aber das Portemonnaie war noch da.

„Mats!“

Abgehetzt sah ich mich um. Ich war, ohne es zu bemerkten, an meinem Zielort vorbeigerannt und ich musste wohl von Glück sprechen, dass Lynn mich von der Terrasse aus entdeckt hatte.

„Hey, Lynn!“

Ich ließ eine freundschaftliche Umarmung zur Begrüßung aus, weil ich doch ein wenig geschwitzt hatte und mir nicht vorstellen konnte, dass sie das angenehm fand und ließ mich stattdessen auf den Stuhl ihr gegenüber fallen.

„Wartest du schon lange? Tut mir leid, habe die Bahn verpasst“, brachte ich atemlos hervor und sie zog eine Augenbraue hoch, um dann spöttisch zu grinsen. Sie konnte das fast so gut wie Izu.

„Nicht so wild“, lächelte sie. „Ich hab uns schon mal was bestellt. Du stehst doch noch auf Caramelmachiatos?“

„Sieht man mir an, oder?“, entgegnete ich. „Wie geht’s dir? Hast du die Wohnung schon eingerichtet?“

„Ja, mein Freund hat mir geholfen. Aber er musste schon wieder zurück.“

Ich nickte nur, denn ich atmete immernoch so schwer, dass es seltsam gepresst klang, wenn ich sprach und ich griff mir ans Handgelenk, um meinen Puls zu messen. Als nicht ganz so dünner Mensch musste ich aufpassen, dass ich nach so einem Gehetze nicht schlapp machte...

Bevor ich jedoch einen Puls fand – was ungewöhnlich war, weil ich inzwischen genug Übung darin hatte – stellte ich fest, dass meine Uhr stehen geblieben war.

„Das kann doch nicht sein!“, fluchte ich. „Zweiundzwanzig Jahre lang bleibt das Ding nicht stehen und gerade jetzt gibt es seinen Geist auf. Ich dachte, das Ding wäre unsterblich!“

Lynn zog verwundert die Stirn kraus.

„Die Uhr ist dir ziemlich wichtig, nicht wahr? War sie nicht ein Erbstück deiner wahren Eltern?“

„Das Einzige, was ich jemals von ihnen besessen habe“, antwortete ich und musste dann grinsen.

Du hast ja gar keine Zeit mehr!“, plötzlich glaubte ich zu wissen, was der Obdachlose damit gemeint hatte.

 

„Die Uhr ist vollständig intakt“, verkündete der Uhrenmacher. „Ich kann Ihnen nicht sagen, weshalb sie stehen geblieben ist, aber an der Batterie oder am Innenleben kann es nicht liegen. Die Mechanik ist einwandfrei und die Batterie habe ich ausgetauscht. Tut mir leid, ich kann mir nicht im Geringsten erklären, weshalb sie nicht funktioniert.“

Er reichte sie mir zurück und ich konnte ihm ansehen, dass er tatsächlich ratlos war. Also nahm ich sie ohne einen Kommentar und legte sie wieder an.

„Vielen Dank!“

Frustriert verließ ich den Laden – den dritten, in dem ich es versucht hatte. Anscheinend war meine Uhr wirklich nicht kaputt, sie funktionierte nur einfach nicht mehr und kein Uhrenmacher der Stadt konnte sich das erklären. Blieb nur noch die Hoffnung, dass sie genauso plötzlich wieder zu ticken begann wie sie stehen geblieben war.

Lynn hatte Recht gehabt, die Uhr war mir unendlich wichtig, denn nachdem ich jene Eltern verloren hatte, von denen ich gedacht hatte, sie würden mich lieben und ich wäre ihr eigenes Kind, hatte sich herausgestellt, dass diese Uhr mir damals von meinen richtigen Eltern mitgegeben worden war, als sie mich in einer Kirche abgegeben hatte. Ich hatte diese Kirche besucht, nachdem ich meinem alten Zuhause den Rücken zugekehrt hatte und der Pastor hatte sich sogar noch an mich erinnert.

Ihren Eltern war sehr wichtig, dass sie diese Uhr bei sich haben.“, hatte er gesagt. „Sie schienen Sie sehr geliebt zu haben. Sie sagten, es wäre Ihnen nicht möglich, Sie zu behalten, da Sie sonst in großer Gefahr wären. Ich glaube, Ihre Mutter war aus einer sehr alten und reichen Familie und war gezwungen worden, Sie weg zu geben.“

Das hatte mir meine wahren Eltern zwar nicht lieber gemacht, denn weggegeben hatten sie mich trotzdem, aber ich hatte die Uhr mit anderen Augen gesehen, denn immerhin war sie mein einziges Verbindungsstück zu ihnen. Auch wenn sie mir nicht helfen würde, sie zu finden...

Ich kam noch einmal an dem alten Obdachlosen vorbei, als ich in die U-Bahn-Station hinab stieg und dieses Mal hielt ich mich an der anderen Seite der Treppe. Trotzdem sah er mich und machte sogar Anstalten, sich zu erheben und hinter mir herzuhumpeln.

„Du!“, rief er wieder. „Du hast gar keine Zeit!“

„Ja, ich weiß, meine Uhr ist stehen geblieben. Fragen sie jemand anderen, wie spät es ist!“, rief ich zurück und beschleunigte meinen Schritt, damit er mich nicht einholen konnte, doch er blieb am Ende der Treppe stehen, als hätte er Angst, den Untergrund zu betreten.

„Nein, du verstehst das nicht!“, rief er aufgebracht. „Du hast sie verloren! Du hast keine Zeit! Du hast keine Zeit!“

Ohne mich nach ihm umzudrehen hetzte ich den Bahnsteig entlang und sprang in die Bahn, die gerade eingefahren war. Erst dann blickte ich zum Ende der Treppe zurück.

Der alte Obdachlose stand noch dort, die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen und über das Rattern des anfahrenden Zuges konnte ich sein fast hilfloses Rufen noch ein letztes Mal hören.

„Junge! Du hast keine Zeit! Du hast keine Zeit!“

Inhalt

Eines Tages aufwachen und keinen Herzschlag mehr spüren, das funktioniert nicht - dachte Mats zumindest, bis ihm genau dies geschieht.

Verstört begibt der Waisenjunge sich auf die Suche nach einer Antwort darauf, was mit ihm geschehen ist. Er erfährt, dass er Nachfahre einer alten menschlichen Rasse ist, die seit Jahrhunderten als ausgestorben gilt und nur noch wenigen Wissenschaftlern als "die Zeitlosen" bekannt ist.

Mit der Hilfe eines Professors - dem einzigen Menschen, der ihm Glauben schenkt - beginnt er seine Herkunft zu erforschen und stößt bald auf ein gefährliches Geheimnis in der Geschichte der Menschheit.

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© Arina Kirey 2015