Die Zwillingsmuschel

Leseprobe

Ob ich durch das stetige Rumpeln des Pferdewagens oder die heftigen Kopfschmerzen wieder zu mir gekommen war, konnte ich nicht sagen. Jedoch wünschte ich, ich wäre es nicht. So musste ich die Schmerzen voll und ganz ertragen, die vielen Blutergüsse sehen, die man mir zugefügt hatte und am schlimmsten war, dass ich wieder an meine Lady denken musste. Ohne es zu wollen durchlebte ich immer wieder unsere letzte Begegnung und ihren wohl qualvollen Tod. Eigentlich konnte ich nicht glauben, dass sie einfach nicht mehr da war und dennoch wusste ich dieses nur zu genau. Wenn ich lauschte, glaubte ich ihre Stimme zu hören, wenn ich die Augen schloss, sah ich sie lächeln. Sie durfte nicht fort sein! Fast kam es mir grausam vor, dass man sich so lange gekannt hat, sich jeden Tag sah und es dann verpasst sich zu verabschieden, weil man nicht gewusst hat, dass man sich nie mehr wiedersehen wird. Die Gitterstäbe, an die man mich gefesselt hatte, bohrten sich in meinen Rücken, das Seil schnitt mir ins Handgelenk. Meine Kleider waren zerrissen und verschmutzt. Obwohl ich mein Gesicht nicht sehen konnte, wusste ich, dass ich schrecklich aussehen musste. Wenigstens hatten sie mir meine Muschel nicht genommen. Ihre glatte, weiche Oberfläche lag kühl auf meiner Haut.

Der Wagen fuhr durch ein Schlagloch und mein Kopf schlug hart gegen das Gitter, das an den Wänden des Wagens angebracht sein zu schien. Jetzt, wo sich meine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten, sah ich, dass ich gar nicht allein war. Schräg gegenüber war noch jemand angebunden. Es schien ein Junge zu sein, aber ob er lebte oder tot war, vermochte ich nicht zu erkennen. Sein Kopf hing leblos herunter und schaukelte im Takt des Wagens hin und her, schlug gegen die Wand und ruhte dann für einen Augenblick auf der Brust, bevor er wieder zu schaukeln begann. Dunkles Blut tropfte aus einer frischen Wunde an seiner Schläfe und färbte sein helles Haar rubinrot.

„Er ist kein reiner Japaner! Genauso wie ich.“, dachte ich mitleidig. Ein leises Stöhnen zeigte mir, dass er anscheinend noch am Leben war. Seine Schmerzen mussten noch viel unerträglicher sein. Was er wohl durchgemacht hatte? An den Beinen hatte er keine Haut mehr! Ob man ihn gefoltert hatte?

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Das Tageslicht erschien mir unwahrscheinlich grell, als die Wagentüren aufgerissen wurden. Es zwickte in den Pupillen und trieb mir Tränen in die Augen, aber ich hielt sie offen, um bloß nichts zu verpassen. Als erstes nahem die Krieger den Jungen mit. Sie schlugen ihn ins Gesicht und traten ihm in den Magen, bis er vollkommen leblos und zusammengesunken am Gitter hing. Dann schnitten sie die Fesseln durch und schleiften ihn davon. Ich konnte sehen wie sie ihn durch den Dreck zerrten. Ein Zittern ergriff ungewollt Besitz über meinen Körper. Sie würden mich umbringen, das wurde mir jetzt klar. Mord wurde mit der Todesstrafe beglichen! Ich würde schon bald meiner Lady in den Tod folgen, entweder durch den Strick oder das Schwert. Man würde mich nicht besser behandeln als andere Sträflinge, keinen Deut besser. Für sie war ich schuldig, da konnte ich machen was ich wollte, es würde sich nie ändern.

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Die Krieger behandelten mich zwar nicht unbedingt viel besser als den Jungen, aber sie schlugen und traten mich nicht. Vielleicht, weil ich ein Mädchen war. Sie verbanden mir die Augen und zerschnitten die Fußfesseln, bevor sie mich aus dem Wagen zerrten und irgendeinen schlecht bestreuten Kiesweg entlang zogen. Ein Steinchen bohrte sich in meine Lederschuhe. Vor Schmerz sog ich scharf die Luft ein. Jemand lachte, wahrscheinlich einer der Krieger, doch ich beachtete es nicht. Es war ein gemeines, hässliches Lachen.

„Die hängt, bevor sie überhaupt eine richtige Frau ist, so wie die aussieht! Das hatten wir ja noch nie!“, sagte eine gehässige Männerstimme. Auch das verdrängte ich. Es war fast als hätte das Tuch, das meine Augen verband, auch meine Ohren ertauben lassen. Kühle, schneidende Luft ließ mich erahnen, dass wir ein Gebäude betreten hatten. Ein Gefängnis? Es ging Treppen hinunter, einen Gang entlang, bis man mich anhielt. Eine kräftige Hand packte mich an den Fesseln und löste sie. Schlüssel klirrten, eine Tür quietschte. Dann wurde ich grob vorwärts gestoßen, stürzte auf den Boden und hörte die Tür wieder zufallen. Sofort riss ich mir das Tuch von den Augen und starrte entsetzt in den völlig verdreckten Kerkerraum, in dem ich gelandet war.

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Mir wurde übel vor Ekel. Es stank nach Erbrochenem und Schimmel, die Luft war dick und Wasser tropfte von der Decke. Ich würgte. Ein Husten bahnte sich den Weg aus meiner Kehle heraus und ich versuchte es zu unterdrücken. In der Nebenzelle stöhnte jemand unter Schmerzen, in der Ferne schrie ein Kind. Langsam wich der Schock von mir und ich weinte. Die salzigen Tränen liefen über meine Wangen, tropften von Nasenspitze und Kinn und vermischten sich mit den schmutzigen Pfützen am Boden.

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Die Dauer meiner Gefangenschaft hatte sich schon auf mehrere Wochen ausgedehnt. Ich konnte inzwischen Tag und Nacht nicht mehr auseinander halten, wobei der Wechsel der Wachen auch keine Hilfe war, da er unregelmäßig geschah. Das endlose Gejammer anderer Verließinsassen hielt mich vom Schlafen am und ich war abgemagert. Ich hatte gelernt mit dem von innen nagenden Hunger in meiner Zelle zu sitzen und das Gitter anzustarren. Obwohl ich meiner Herrin geschworen hatte immer stark zu sein, gab ich langsam auf. Aus dieser Situation gab es kein Entkommen. Ich würde eben früher oder später sterben. Entweder durch die Vollstreckung meines Urteils oder ich würde hier unten einfach verhungern. Das eindeutige Ziel dieses niederträchtigen Gefängnisses war bei mir wohl auch schon fast erreicht: Mein Wille stumpfte ab, der Gedankenfluss war fast vollständig gestoppt.

Der einzige Lichtblick war meine Kette mit der Zwillingsmuschel. Wenn ich sie unter meinem Kleid hervorzog, lag sie, im matten Licht schimmernd, auf meiner Handfläche und erinnerte mich an mein Leben bei Lady Rakawia. Dann tauchte ich für längere Zeit in glückliche Erinnerungen ein und vergaß alles um mich herum. Deshalb bemerkte ich wohl auch nicht gleich, dass jemand auf dem Gang stand.

„Sie mich an Mädchen!“, befahl der junge Mann und riss mich aus meinen Gedanken. Er war hoch gewachsen, hatte schwarzen Haar und glänzende, grüne Augen.

„Steh auf und verbeuge dich, wenn der Lord mir dir spricht!“, motzte eine Wache. Ich rappelte mich hoch. Der adlige Kriegersohn, denn das war der Lord vermutlich, musterte mich und nickte dem Mann neben sich zu. Die Gittertür wurde aufgeschlossen.

„Komm mit!“

Gehorsam folgte ich dem Lord, der kaum viel älter sein konnte als ich. Zwei, drei Jahre vielleicht, mehr aber nicht. Ob er gekommen war. um mich meinen letzten Weg zu führen, den Weg zur Hinrichtung? Er hatte meine Hände nicht wieder fesseln lassen und ich krallte meine Finger vor Angst in den gerissenen Stoff meines Kleides. Ich folgte ihm dem Gang entlang, dann einige Treppen hinauf. War dies nicht der Weg, auf dem ich hier herunter gekommen war? Durch ein Tor traten wir ins Freie. Ich zog die frische Luft ein als hätte ich vergessen wie sie roch oder sich in den Lungen anfühlt. Vögel zwitscherten, Blumen verströmten einen herrlichen Duft und ein Reiher flog über mich hinweg. Wie konnte die Welt nur so fröhlich sein, wenn es mir schlecht ging? Es war einfach ein schreckliches Gefühl! Der Lord war gekommen, um meine Bestrafung auszuführen, aber ich wollte nicht sterben! Mit einem Mal lebte ein unheimlich starker Überlebenswille in mir auf und ich sah mich hektisch um. Sollte ich fliehen? Zwar war ich ausgehungert und müde, aber wenn es nun um mein Leben ging, konnte ich jetzt alles tun.

Inhalt

Japan, 18.Jahrhundert: Das Waisenmädchen Sarah trifft auf den adligen Kriegersohn Takeru, der ihr als Zeichen seiner Zuneigung die Hälfte einer Zwillingsmuschel schenkt. Kurz darauf erkrankt Sarah an einem starken Fieber, wird adoptiert und lebt forthin unter dem Namen Toki. Sieben Jahre später erinnert sich die nun 16 jährige Toki nicht mehr an ihr Zusammentreffen mit Takeru, trägt die Zwillingsmuschel jedoch weiterhin, ohne ihre Bedeutung zu erahnen.

Bald darauf kommt ihre Adoptivmutter bei einem Brand ums Leben und Toki, die des Mordes an ihr beschuldigt wird, wird zum Tode verurteilt. Der inzwischen als heranwachsender Lord angesehene Takeru erkennt in ihr die zu Unrecht Beschuldigte und befreit sie aus dem Kerker, um sie zu einem seiner Dienstmädchen zu ernennen. Weder er, noch Toki wissen zunächst, wer der jeweils andere ist.

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