Nur ein Schatten im Dunkel der Nacht

Leseprobe

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Die Glut im Kamin war noch nicht ganz erloschen, als die ersten Sonnenstrahlen in den Raum fielen und Milly weckten. Sie legte Holz nach und wusch sich das Gesicht im Wasser, das sie am Vortag vom Fluss geholt hatte.

„Morgen, Milly. Lässt du Karl noch ein wenig schlafen?“

„Ja. Mutter!“, antwortete sie gehorsam.

„Sehr schön.“

Ihre Mutter warf sich ein Stofftuch über die Schultern, um sich warm zu halten und Milly wollte gerade die stählerne Wasserkanne über das Feuer stellen, um den drei Tage alten Tee wieder aufzukochen, als ihre Mutter strauchelte und sich am Tisch abstützen musste.

„Mutter!“, rief sie erschrocken und eilte hinüber.

„Es geht mir gut, Milly. Mach dir keine Sorgen. Ich muss arbeiten!“, entgegnete sie. Milly legte eine Hand auf ihre Stirn und zog sie sofort wieder fort.

„Ihr glüht ja förmlich! So könnt Ihr nicht auf den Markt. Legt Euch wieder hin, Mutter! Bitte!“

Mit sanfter Gewalt schaffte sie es schließlich, sie zurück ins Bett zu bugsieren und deckte sie zu.

„Was machst du da?“, fragte Karl hinter ihr. Er musste aufgewacht sein, als sie laut gesprochen hatte. Mit seinen großen Augen sah er sie leicht anklagend an.

„Mutter ist krank, Karl. Sie kann nicht arbeiten und ums jetzt viel schlafen, also sei bitte...“

„Milly!“, wehrte sich ihre Mutter, doch Milly hielt sie im Bett fest.

„Kriege ich dann keine Birne?“, maulte er. Sie seufzte.

„Nein. Wahrscheinlich nicht.“

~·~

Milly hatte alle Mühe ihre Mutter zu versorgen. Einerseits kam Karl ihr andauernd in die Quere, wenn sie durch das Zimmer eilte, um die Wickel auszuwechseln, die das Fieber senken sollten, und andererseits hatte sie kaum etwas zu essen, geschweige denn frischen Tee, den sie hätte machen können. Sie eilte alle paar Stunden zum Fluss hinunter, um neues Wasser zu holen und blieb auch nachts am Bett ihrer Mutter. Trotzdem besserte sich ihr Zustand in den nächsten Tagen kaum. Die meiste Zeit verschlief sie zwar, aber wenn sie wach war, zwang Milly sie etwas zu essen und zu trinken. Während Karl nicht sonderlich bekümmert war, machte sie sich umso mehr Sorgen. Einmal redete ihre Mutter im Fieber, sie solle ihren Bruder nehmen und weglaufen. Sie regte sich über nicht existierende Menschen auf, phantasierte und sprach immer wieder davon, dass sie fliehen sollten. Milly behagte das überhaupt nicht. Immer wieder versuchte sie ihre Mutter zu beruhigen und sprach ihr gut zu, aber sie steigerte sich nur noch mehr in Selbstgespräche ohne Sinn. Karl weinte. Noch nie hatte er jemanden so ohne jegliche Kontrolle über sich selbst gesehen und er verzog sich mit seiner vielmals geflickten Decke über die Ohren gezogen in seiner Schlafkoje.

„Ihr müsst damit aufhören, Mutter!“, rief Milly bittend und schüttelte sie leicht. Mit anscheinend neu gewonnener Kraft bäumte sich ihre Mutter im Bett auf.

„Lauft!“, rief sie, „Flieht endlich, bevor es zu spät ist!“

Vielleicht war es der befehlende Tonfall, vielleicht aber auch die mit einem Mal so klaren Augen, jedenfalls packte Milly Karl am Arm und rannte, rannte in Panik aus der Tür, die Gasse entlang und bis aus den Toren der Stadt, wo der Fluss reißender wurde. Dort am Ufer brach sie keuchend zusammen und wimmerte leise vor Angst.

~·~

Irgendwann hatte Karl aufgehört zu weinen und war in ihren Armen eingeschlafen. Milly schlief nicht. Sie lag wach im hohen Gras, Karl fest an sich gepresst. Während sie unruhig der Nacht lauschte, rannen salzige Tränen über ihre Wangen. Die Verwunderung über das Verhalten ihrer Mutter kämpfte in ihr mit dem schlechten Gewissen sie einfach so zurückgelassen zu haben. Doch über beides siegte die Verzweiflung machtlos und schwach zu sein und genau über diese Schwäche weinte sie. Nicht zum letzten Mal fragte sie sich, warum sich die Menschheit immer allmächtig fühlte, wenn sie in Wirklichkeit so unwissend und machtlos manchen Dingen gegenüber war.

~·~

Gegen Morgen wurde sie immer unruhiger. Als die Sonne das Wasser das nahen Flusses glitzern lassen ließ und die Blüten der wilden Blumen sich wieder öffneten, rüttelte sie Karl wach.

„Wir müssen zurück!“, sagte sie und zog ihn auf die Beine.

„Aber Mama hat doch...“

„Mutter ist krank, Karl! Wir können sie nicht einfach im Stich lassen!“

„Sie hat gesagt, wir sollen weggehen.“

„Karl! Schweig!“, rief Milly laut. Er zuckte zusammen, schob die Unterlippe vor und machte große Augen. Es sah ganz so aus als wolle er wieder weinen.

„Komm mit!“, befahl sie und marschierte auf die Stadt zu.

~·~

In den Straßen waren an diesem Tag bemerkenswert viele Patrouillen der Stadtwache unterwegs. Sie gingen im Gleichschritt durch die Menschenmengen und blickten suchend umher. Milly beunruhigte das nur noch mehr. Sie zog Karl hinter sich her in eine Seitengasse und mied den direkten Weg über den Marktplatz. Mit der Stadtwache hatte sie bis jetzt nur schlechte Erfahrungen gemacht. Sie erreichten schon bald ihr Zuhause und sie klopfte an die Tür. Niemand antwortete, geschweige denn öffnete ihnen. Panik packte Milly. Sie warf sich gegen die morschen Holzplanken und die Tür brach aus ihren Halterungen.

Der Raum war leer.

„Mutter?“, fragte sie mit zitternder Stimme, ihr Herz raste, „Mutter!“

Sie rannte zum Bett, schlug die Decken zurück, kroch unter den Tisch und schaute in jeder noch so unzugänglichen Ecke des Zimmers nach, aber ihre Mutter blieb verschwunden.

„Milly, was ist das?“

Karl deutete auf den Schrank, an dessen Frontseite ein Zettel hing, der ihr noch nicht aufgefallen war. Mit ein paar schnellen Schritten war sie dort und riss das Blattpapier ab, um es zu lesen.

 

Haftbefehl

 

gegen Margarete Schien wegen nicht bezahlter Steuern und Miete.

Verurteilt durch das Stadtgericht zu lebenslanger Haft, sowie Pfändung allen Besitzes.

Vollstreckung des Urteils durch die Stadtwache, beauftragt durch die Stadtregierenden.

 

Darunter war das Siegel der Stadt angebracht. Ungläubig starrte sie darauf.

„Was steht da?“, fragte Karl unruhig, als das Papier zu Boden fiel. Sie schwieg entsetzt. Das konnte nicht wahr sein, es durfte einfach nicht wahr sein! Ihre Mutter war doch keine Verbrecherin!

„Milly!“, rief Karl weinerlich, „Wo ist Mama?“

Sie ging in die Knie und nahm ihn in den Arm.

„Mutter ist fort!“, sagte sie mit zitternder Stimme, „Vielleicht für immer!“

Inhalt

Um 1800: Die verarmte 16 jährige Milly erlebt die Machtgier des städtischen Adels auf schrecklichste Weise, als ihre verwitwete Mutter wegen unbezahlter Steuern inhaftiert und ihr fünfjähriger Bruder Karl an ein adliges Ehepaar verkauft wird. Unterstützung findet sie zunächst noch bei Theodor Lambertan, einem adligen Kindheitsfreund, der sie bei sich aufnimmt. Während Theodor seine weitaus mehr als freundschaftlichen Gefühle für Milly entdeckt, zerfrisst sie der Hass auf den Adel von Innen. Als ihre Mutter schließlich im Kerker verstirbt, beginnt Milly ein geheimes Nachtleben als gefürchteter Phantomdieb, der in die städtischen Villen einsteigt, um ihren Bruder wiederzufinden. Doch Theodor wird bald als Oberoffizier der Stadtwache auf den Phantomdieb angesetzt.

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