Runenseele

Leseprobe

Ich umschloss den Stängel der Magelile noch ein wenig fester und starrte in die Ferne.

„Ist es nicht seltsam, dass manche Menschen lieber den Tod wählen als zu leben?“, fragte ich sie und drehte die Blume in meiner Hand.

Keine Antwort, wie immer.

„Ist das normal?“

Ganz allmählich sank die Sonne über den Rand der Berge hinweg. Ein glühender Ball, der jeden Abend von der Dunkelheit der Nacht aufgefressen wurde, um dann morgens wieder neu zu erstehen.

„Im Grunde stirbt sie auch jedes Mal!“, sagte ich und lächelte bei dem Gedanken. Mir hatte schon immer der Tod gefallen. Es war einfach so, dass ich das Leben nicht schätzte.

„Sterben muss schön sein, wenn es schnell geht.“

Ich lehnte mich an den Fels zurück und schloss die Augen. Innerlich sah ich die Stille der Berge noch viel besser und genoss sie umso mehr.

Es war so herrlich einsam und verlassen hier oben, so ganz anders als in der Stadt.

Das Leben in der Magelile pulsierte ewig, das wusste ich, aber das in mir konnte schnell erlöschen. Ich hatte nichts mit der heiligen Blume gemeinsam, außer dass ich existierte.

Dabei wollte ich alles, außer genau diesem Leben in mir.

„Lange genug hat diese Welt mich gequält, als dass ich sie noch länger ertragen brauche!“, dachte ich und erhob mich.

In diesem Moment sah ich den schillernden Schlangenkörper durch die Luft auf mich zu schweben. Er kam aus dem Abendrot heraus, der Drache.

Eine riesige mit Schuppen besetzte Pranke setzte direkt vor mir auf dem Felsgestein auf und die Krallen bohrten sich tief in den Untergrund.

Hatte vielleicht der Todesgott endlich verstanden, dass ich nicht leben wollte und mir deshalb einen seiner Boten geschickt? Immerhin waren die Drachen ein Zeichen für das ewige Ende.

Ich wich keinen Schritt zurück, nicht einmal, als er sein Maul öffnete und mir seine ellenlangen Fangzähne offenbarte. Doch anstatt mich zu zerfleischen und aufzufressen, begann der Drache zu sprechen.

„Warum fliehst du nicht, Mensch? Bist du so mutig, oder vielleicht einfach nur töricht?“

Er wandte seinen Kopf ein wenig, um mich aus einem riesigen Auge anzustarren.

„Weder noch!“, murmelte er, „Du glaubst nicht an den Sinn des Lebens, nicht wahr?“

„Das Leben hat keinen Sinn. Deines genauso wenig wie meines. Warum frisst du mich dann nicht einfach?“

Er lachte.

Der Felsen unter mir begann zu rumpeln und zu knacken und das tiefe Grollen seiner Stimme dröhnte zwischen den Bergen und in meinen Ohren.

Warum konnte mich dieses verdammte Biest nicht einfach verschlingen, wie es das mit bestimmt schon Millionen von Menschen getan hatte?

„Du trägst eine Magelile. Wusstest du nicht, dass du berufen bist?“

Inhalt

Die Seele des Drachen Isaz wird nach dessen Tod im Körper eines Menschenjungens wiedergeboren. Um erneut als Drache auferstehen zu können, muss die Seele mindestens ein Menschenleben gerettet haben. Ist Da jedoch alle Drachenseelen einst aus einer Rune entstanden sind, müssen sie der Bedeutung dieser Rune nachkommen. Isaz, das Eis, die Starre und die Brücke zwischen Leben und Tod, ist dadurch als Mensch stark suizidgefährdet und droht, nicht als Drache wieder auferstehen zu können, stände ihm nicht die Drachendame Choichichi zur Seite, die den von Einsamkeit geplagten Menschenjungen, der sich selbst längst vergessen zu haben scheint, auf den richtigen Weg zu bringen versucht.

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© Arina Kirey 2015