Tod eines Engels

Leseprobe

„Wer seid ihr?“

Die ängstliche Jungenstimme drang aus dem Dunkeln zu uns hinüber und klang so unerträglich schwach in meinen Ohren, dass ich am liebsten gleich wieder umgekehrt wäre, doch eine ziemlich starke Hand hielt mich zurück.

„Mach schon!“, motzten Shions Augen mich an. „Nimm seine Seele und wir können wieder weg. Das willst du doch so unbedingt, Pain! Habe ich recht?“

Ich nickte nur und schwebte langsam an das Bett des Jungen heran.

„Beeile dich!“

„Wer bist du?“, fragte der Junge noch einmal und streckte seine kleine Hand nach meinen Flügeln aus. „Was willst du?“

„Ich tue dir nichts! Bitte schließe deine Augen, dann wirst du endlich schlafen können!“, flüsterte ich.

„Bist du ein Traum?“

„Vielleicht.“

„Aber...“, begann er, doch meine Augen brachten ihn zum Schweigen. Einen kurzen Moment blickte er mich noch an, dann fielen ihm die Lieder herunter.

„Du kannst jetzt schlafen!“, wisperte ich und strich ihm über das Gesicht. Sofort ging sein Atem ruhig und gleichmäßig.

„Tu es endlich!“, grummelte Shion. Sachte presste ich meine Hände auf die Brust des Jungen. Ich spürte sein Herz unter ihnen schlagen, umschloss es und brachte es zum Stehen, wenn auch nicht für allzu lange, denn sobald ich mit Shion fort war, würde es wieder zu schlagen beginnen, ohne dass es jemand im Totenreich bemerken würde! Der Atem im Bett war verstummt.

„Fertig!“, meinten meine Augen und Shion nickte zufrieden.

„Verschwinden wir!“

Er stieg durch die Wand und verschwand aus meinem Sichtfeld. Schnell beugte ich mich noch einmal über den Menschenjungen, küsste ihn auf die Stirn und flüsterte: „Unerkannt und doch genannt! Oh ihr Mächte des scheinenden Lichtes, durchscheinet dieses Menschen Körper und macht ihn flimmernd für jedes Himmelsauge!“

Dann folgte ich Shion durch die Wand nach draußen.

„Trödle nicht immer so herum!“, knurrten seine Augen, während seine Flügel zu schlagen begannen, „Die meisten Menschen glauben nicht an unsere Existenz und so sollte es auch bleiben!“

„Entschuldige!“

Ich folgte ihm auf das Dach des Hauses, wo er sich auf dem First niederließ, um unsere Auftragsliste durchzugehen. Es war eine düstere Nacht, der Mond war hinter Wolken verborgen und Straßenlaternen brachten wir durch unsere alleinige Anwesenheit zum Erlöschen. Ruhig beobachtete ich wie seine eisgrauen Augen über das Papier huschten, bevor er sich an mich wandte und sagte: „Tom Smith, 3rd Street. Danach noch zwei alte Frauen bei Livingtown.“

„Mehr nicht?“

„Für heute Nacht, nein!“

Er faltete die Liste zusammen, steckte sie weg und erhob sich.

„Komm!“, befahlen seine Augen und ich folgte ihm, in der Gewissheit, in dieser Nacht vielleicht noch ein paar Mal den Fluch des Lichtes herauf zu beschwören, der das Leben der Menschen für den Todeszeichner und die Himmelsengel unerkennbar machte.

 

„Klara Colline Greenwish, Sie sind schon wieder zu spät! Setzten Sie sich, aber dalli!“

„Verzeihung, Sir, mein Fahrrad hatte einen Platten!“, log ich, eilte jedoch durch die Tischreihen nach hinten, wo ich mir mit Peter Pauls einen Tisch teilte. Ich ließ mich auf meinen Stuhl fallen und seufzte, während Mr. Thompson, der Geologie Lehrer, mir mit missbilligendem Gesichtsausdruck ein Häkchen auf seiner Anwesenheitsliste machte.

„Gib es zu, Klara! Du hast verschlafen und deinen Wecker nicht gehört!“, wisperte Peter belustigt, wobei er so tat als würde er eifrig das Tafelbild abmalen.

„Habe ich nicht!“, entgegnete ich nur, was durchaus der Wahrheit entsprach, da Engel einfach nicht schlafen müssen und selbst der menschliche Teil in mir brauchte nur alle paar Wochen ein bis zwei Stunden Schlaf.

„Dann hat dein Fahrrad wirklich einen Platten?“, fragte er misstrauisch.

„Ja“, murmelte ich nüchtern. Er wollte gerade etwas darauf sagen, als Mr. Thomsons scharfe Stimme dem Beginn einer Stillarbeit ankündete, er die zu bearbeitende Aufgebe diktierte und uns zum Schweigen verdonnerte. Eigentlich froh darüber, begann ich meine Antworten in den Hefter zu kritzeln. Die Aufgabe war leicht, zu leicht für einen Engel.

„Nennen Sie drei für ihre mystischen Legenden bekannte Orte auf der Welt und ihre Geschichte. Ordnen Sie sie nach Klimazonen und Breitengraden.“

Peter schob einen ausgerissenen Zettel zu mir hinüber.

„Soll ich den Platten flicken?“, las ich stumm.

„Nein, ist schon in Ordnung!“, antworteten meine Augen und ich wandte mich unbesorgt meinem Hefter zu, bis mir einfiel, dass Menschen nicht über ihre Augen kontakten konnten und schrieb meine Antwort unter seine Frage. Er nickte leicht und schob den Zettel unter seine Federtasche.

Der Rest dieses Montages sah ähnlich aus: Viele Stillarbeiten, kaum Pausen, unbeliebte Lehrer. Angenervt machte ich mich nach Schulschluss zu Fuß auf, weil ich mein Fahrrad zu Hause gelassen hatte und nicht einfach in der Schülermenge, die aus den Gebäuden herausdrängte, meine Flügel ausbreiten konnte, um davonzufliegen. Warum musste ich überhaupt in diese Schule? Als Engel wusste ich schon alles, was ich dort eigentlich lernen sollte, auch wenn ich nicht als solcher dort auftauchte.

Früher war ich gerne zur Schule gegangen, nur der vielen Menschen wegen, aber jetzt war es genau diese große Menge an Menschen, die mich immer und immer wieder an jenen schrecklichen Tag erinnerten, an dem ich meine Reinheit verloren hatte. Seit ich zum Todesengel geworden war, litt ich tief in meinem Innersten. Für die Menschen war ich gleich geblieben, ich war Klara Colline Greenwish, aber aus Hope war Pain geworden, aus silbernen Haar violettes, aus ebenso silbernen Augen lila farbene und aus weiß-goldenen Flügeln schwarze. Der menschliche Teil in mir blieb unverändert, doch der Engel fiel...

Inhalt

Klara Colline Greenwish ist Oberstufenschülerin eines Gymnasiums – und ein gefallener Menschenengel, ein Wesen zwischen Mensch und Engel, im Himmelsreich in Ungnade gefallen. Unter ihrem Todesengelsnamen Pain löst sie zusammen mit ihrem Partner Shion, ebenfalls ein Todesengel, zum Sterben verurteilte Menschenseelen aus dem menschlichen Körper. Doch sie hat ein Geheimnis – sie sieht sich noch immer als einen Himmelsengel, kann es nicht über sich bringen, Menschen zu töten und lässt es nur so erscheinen, als löse sie die Seelen. Nichts will sie lieber als in das Himmelsreich zurückzukehren und ihren Himmelsengelnamen Hope wieder tragen zu dürfen. Doch dann steht ihr bester Menschenfreund und heimlicher Schwarm Peter auf der Todesliste von Shion.

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© Arina Kirey 2015