Das letzte Lied

Leseprobe

-4-

Tey

 

Weshalb es mich jede Nacht wieder zurück an die Oberfläche zu den Menschen zog, wusste ich nicht. Aber ich kehrte zurück, wirklich jede Nacht. Es war ein Zwang, der mich überkam, auch wenn ich zeitweise derartig müde war, dass ich kaum mehr stehen konnte. Ich stieg dann die endlos erscheinende Treppe den Schacht hinauf und kam irgendwann am Bodengitter an, das ich aufstieß und hinausstieg.

Ich machte es immer gleich, als wäre mein Leben daran gebunden. Doch ich wusste, dass es das nicht war. Mein Leben war nicht an Gleichheit oder immer wiederkehrende Handlungen gebunden und erst recht nicht an die Menschenwelt. Nein, nur an meine auslöschende Rache ...

 

Gähnend stieg ich auf den Fußweg.

Meine Knie schmerzten ein wenig vom Treppensteigen und meine Seiten stachen. Ich hatte es nicht erwarten können, endlich an die frische Luft zu kommen und war die letzten paar hundert Stufen gerannt.

Mühsam richtete ich mich auf.

„Was willst du denn hier, Ungeziefer?“

Ein Schreck durchzuckte mich und ich fuhr herum.

Da waren sie, die Rassisten.

Wahrscheinlich hatten sie am Bodengitter nur darauf gewartet, dass jemand herauskam. Aber sie hatten nicht damit gerechnet, dass jemand wie ich kam und das war mein Vorteil.

Langsam wanderte meine Hand in die Hosentasche und umfasste den Messergriff.

„Der kann sich vor Dummheit gar nicht bewegen!“, grölte einer von ihnen.

Sie waren in der Überzahl. Sie waren immer in der Überzahl, wenn sie sich an einem von uns vergriffen. Aber das würde ihnen dieses Mal nicht helfen!

Leider waren sie über mich hergefallen, bevor ich mich regen konnte, so tief saß der Schreck. Mein Kopf schlug hart auf den Boden, weil ich die Hand noch immer in der Hosentasche hatte. Die Messerklinge schnitt tief in das Fleisch an Bein und Arm und ich brüllte laut vor Schmerz, während die Rassisten unter Grölen auf mich einprügelten.

„Aufhören!“

Sofort hielten sie inne und wandten sich verwundert von mir ab, um nachzusehen, wer gesprochen hatte.

Ich hingegen rappelte mich auf und zog das Messer.

 

Ich stach zu, mehrmals, ganz schnell, so fest ich nur konnte.

Den Schrei in meinen Ohren hatte ich selbst erzeugt, obwohl er schrill und ängstlich klang.

Mit einem dumpfen Klatschen schlug der Rassist in einer Pfütze auf und regte sich nicht mehr.

„Verdammte Scheiße! Der hat ihn umgebracht!“, keuchte ein anderer. „Der Typ ist psycho!“

Brüllend machten sich die restlichen Rassisten die Straße entlang davon.

Ich stand nur da.

Blut färbte meine Jeans rot und tropfte von den Fingerspitzen. Meine Kleider waren nass, weil ich mich am pfützenüberströmten Boden gewälzt hatte.

Ein Auto fuhr vorbei, doch ich rührte mich nicht.

Erst langsam überkam mich das Gefühl, angestarrt zu werden.

 

 

 

 

-5-

Cleo

 

Ein Schauer lief mir über den Rücken und ich war froh im Dunkeln der Seitengasse zu stehen, sodass er mich nicht sehen konnte. Und doch hatte ich das unangenehme Gefühl, dass er mich unentwegt anstarrte, ganz als ob er genau wüsste, dass ich die Schläger hatte beherrschen wollen, um sie von ihm wegzuholen.

Ich hätte meine Stimme davon lassen sollen!

Ob nun ein Schattenelf mehr oder weniger verprügelt wurde, was scherte mich das? Solange die Menschen mich in Ruhe ließen ...

Als der Schattenelf einen Schritt auf sein Opfer zu machte, wich ich weiter in die Dunkelheit zurück. Anscheinend hatte er mich doch nicht gesehen.

Es gab ein grässliches Geräusch, verursacht durch das Messer, das er aus dem Rücken seines Opfers zog. Ob er ihn gekannt hatte? Nein, sicherlich nicht. Zumindest hatte es nicht danach ausgesehen, so kaltblütig, wie er zugestoßen hatte. Und dann dieser Schrei – als hätte er Angst vor sich selbst!

„Er ist kein guter Mörder. Zumindest tut er es nicht oft“, dachte ich, während ich beobachtete, wie er sich über den Menschen beugte. Zu dumm, dass ich mit meiner Stimme keine Schattenelfen besitzen konnte. Unsere seltenen Begabungen hatten keine Auswirkungen auf unser eigenes Volk. Und ich war mehr Schattenelf als Mensch. Immerhin konnte ich die Menschen und die Halbmenschen besitzen.

Noch einmal sah der Mörder sich um, dann verschwand er durch das geöffnete Bodengitter nach unten.

Ich wartete kurz ab, ob er zurückkommen würde, doch er tat es nicht.

 

Der getötete Mensch lag in einer Lache aus Blut und Regenwasser, das sich mit dem Dreck der Straße zu schlammigen Pfützen auf dem Asphalt sammelte.

Mit einem Fuß trat ich ihm in die Seite und drehte ihn auf den Rücken. Sein Mund war weit aufgerissen, genauso wie seine Augen. Er war tot gewesen, bevor er wusste, was geschah. Der Schattenelf hatte wohl gleich mit dem ersten Stich sein Herz getroffen, doch genau konnte ich es nicht sagen.

Seufzend stieg ich über ihn hinweg und steuerte wieder die Seitengasse an. Diese Art von Morden gefiel mir nicht besonders. Ich fand sie zu ungenau, zu auffällig, zu leicht durchschaubar. Für solche Dinge hatte ich schließlich meine Stimme.

Und irgendwie bemitleidete ich diesen mordenden Schattenelfen, obwohl ich gar nicht wusste, warum er es tat. Aber das war mir auch egal.

 

Ich beobachtete, wie der Security-Chef des Sozialrates sein Essen in sich hineinstopfte. Mit jedem Glas Bier, das er leerte, nickte ich zufriedener. Je betrunkener er war, desto leichter würde ich ihn umbringen können, weil er sich nicht wehren konnte.

Kurzzeitig dachte ich an den Menschen in seiner Blutlache. Er war nicht der einzige Mensch, der diese Nacht starb und wahrscheinlich würde sein Tod niemanden mehr interessieren, sobald herauskam, dass ein Regierungsmitglied ebenfalls umgekommen war.

Ob man ihn schon gefunden hatte?

Vielleicht hatte einer der Schläger Alarm geschlagen. Das taten sie manchmal, obwohl es eigentlich verboten war, die Schattenelfen anzugreifen. Wie gesagt, eigentlich war es verboten. In Wirklichkeit interessierte sich keiner dafür, ob einer von ihnen zu Tode geprügelt wurde oder nicht. Meistens kam dann der Müllentsorgungsdienst der Stadt und sammelte die Leiche ein, um sie in ihrem Entsorgungszentrum mit dem restlichen Müll zu verbrennen. Wir wurden von den Menschen nicht nur wie Tiere behandelt. Nein, wir wurden auch so entsorgt.

Natürlich geschah das nie mit getöteten Menschen.

Wirklich interessieren tat es keinen, bis auf die Hausbesitzer, vor oder auf dessen Grundstück jemand umgebracht worden war. Gut, wer hatte auch schon gerne eine Leiche bei sich herumliegen?

Fanden sich keine Angehörigen, wurde der Getötete namenlos begraben, sonst meist sogar mit Grabstein und Zeremonie.

Das war eine große Ungerechtigkeit gegenüber den Schattenelfen, aber das war schon immer so gewesen.

 

Er verließ das Lokal später als Taemi und Tsetu Nou gedacht hatten, doch ich war es nicht müde gewesen, auf ihn zu warten. Er hatte nur zwei Begleiter. Eine Frau und einen kleinen Jungen, wahrscheinlich seine Familie. Daran konnte ich nichts ändern. Außerdem hatte keiner gesagt ich solle andere verschonen.

Gemächlich ging ich auf sie zu.

„Entschuldigung“, sagte ich mit samtweicher Stimme. „Könnten Sie mir vielleicht helfen?“

„Aber natürlich!“, antwortete der Security-Chef und ich war mir sicher, dass ich ihn bereits beherrschte. „Was wünschen Sie zu wissen, mein Herr?“

„Ich wünsche nichts zu wissen“, sagte ich und gab meiner Stimme einen noch wärmeren Ton.

Inzwischen starrten mich alle drei mit offenem Mund an.

„Bitte kommen Sie mit. Ich werden Ihnen etwas zeigen!“

Ich ging wieder in eine dunkle Seitengasse und sie folgten mir brav. Beinahe musste ich lachen, so einfach war dieser Auftrag. Drei dumme Menschenmarionetten zu töten, erschien mir beinahe lächerlich.

„Was zeigen Sie uns denn?“, fragte der Junge neugierig, woraufhin ich mich zu ihm hinabbeugte.

„Den Tod!“, stieß ich mit messerscharfer Stimme hervor. „Ich zeige euch allen nur den Tod!“

Inhalt

Die Halbmenschen Cleo Siemony und Tey Löre leben in einer Welt, in der sich die beiden Rassen ihrer Vorfahren abneigend gegenüberstehen. Während die Menschheit diese Welt regiert, wurden die wegen ihres Aussehens gefürchteten Schattenelfen in den Untergrund der Städte – die Unterwelt – vertrieben und brutal unterdrückt.

Cleo, dessen elfisches Blut ihm die einzigartige Gabe verleiht, Menschen durch seine Stimme zu beherrschen und zu töten, wird von zwei Schattenelfen aufgesucht, die ihn als Auftragsmörder für eine Organisation unter dem König der Schattenelfen anwerben. Auch Tey, der den Mörder seiner kürzlich verstorbenen Mutter Laïka sucht, wird von ihnen angeworben, um als Vertreter der Schattenelfen in der Menschenregierung für Frieden zwischen den zwei Rassen zu sorgen. Währenddessen bekommt Cleo den Auftrag, Tey zu überwachen. Nachdem er ihm nach einem rassenfeindlichen Übergriff hilf, entsteht eine enge Freundschaft zwischen den beiden, obwohl Cleo feststellen muss, dass Tey der Sohn seiner ehemaligen Musiklehrerin Laïka ist, die er umbringen musste, weil sie das Geheimnis seiner Stimme erfahren hatte. Die beiden verstricken sich immer tiefer in Probleme mit der Organisation und nach einem von Cleo durchgeführten Massenmord an Regierungsmittgliedern, müssen die beiden in die Unterwelt fliehen.

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© Arina Kirey 2015