Das Vermächtnis der Wissenden

Leseprobe

Prolog

 

Die sanft grünen Blätter raschelten leise im Wind. Fast klang es wie Musik, bis ihm einfiel, dass Maanas Summen viel angenehmer klang. Obwohl es ihm einen grässlichen Schauer über den Rücken jagte, war es trotzdem schöner, so viel schöner.

Lucaniel warf einen Stein ins Wasser, dessen Aufklatschen zusammen mit den Geräuschen der Natur und seinem Atem das einzige war, das die Welt nicht stumm erscheinen ließ. Langsam breiteten sich die Wellenringe über die Weiheroberfläche aus

„Aus dem Weg!“

Ein heftiger Stoß im Rücken ließ ihn vorwärts taumeln. Fluchend fing er sich an jemandem vor sich ab und ehe er bemerkte, dass es sich um eine junge Dame aus dem Adel handelte, breitete sich ein stechender Schmerz auf seiner einen Gesichtshälfte aus.

„Was fällt dir ein, Gör!“, schrie sie ihn an, die Hand bereits für den nächsten Hieb gehoben.

Lucaniel floh durch die Menge auf die andere Seite des Marktplatzes, wo er sich keuchend gegen eine Hauswand lehnte. Er hatte es schon wieder getan! Dieses elende Träumen von einem Ort, den es nicht geben konnte! Und wer sollte diese Maana sein? Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals ein Mädchen mit diesem Namen kennengelernt zu haben. Maana, was war das auch schon für ein Name!

Jubel brandete auf. In der Mitte des Marktplatzes wurde eine junge Frau auf den Scheiterhaufen geführt. Ihre abgeschnittenen Haare und das Brandzeichen hinten auf ihrer vom zerrissenen Stoff des Kleides entblößten Schulter zeigten eindeutig, dass sie eine Ketzerin war, eine Hexe. Ihr Gesicht verriet die Angst vor dem Tod und Tränen rannen über ihre Wangen, während sie ununterbrochen vor sich hin zu murmeln schien.

Betete sie etwa?

Falls sie es tat, nützte es ihr gar nichts. Der Henker band sie fest an den Pfahl, um den der Scheiterhaufen errichtet worden war und steckte danach schnellstmöglich das trockene Holz an. Sie war nicht die erste, die an diesem Tag durch seine Hand starb...

Lucaniel blieb, bis die Flammen das Kleid der jungen Frau erfassten, dann wandte er sich ab und verschwand in den Gassen, ihre fürchterlichen Schreie der Qual in den Ohren.

Eine Ketzerin, die gebetet hatte...

Nachdenklich blickte er zum Himmel. Schwarzer Qualm stieg empor, es stank entsetzlich. Doch das war nichts Neues mehr in Minoor, seit die Kirche den ersten Fall der Ketzerei aufgedeckt hatte. Seitdem fanden fast täglich Hexenverbrennungen auf dem Marktplatz statt.

Und dann waren da noch diese Träume, die ihm etwas vorzugaukeln versuchten, an das er nicht glauben konnte – den Frieden.

 

 

 

 

-1-

 

Lucaniel beobachtete wie sich eine Möwe von einem nahen Hausdach in die Luft schwang, um ein paar Kreise um den aus dem Schornstein wabernden Qualm zu ziehen und dann kreischend davonzufliegen. Die Gasse war wie ausgestorben, nur eine Mäusefamilie suchte in den Ritzen zwischen den Pflastersteinen nach heruntergefallenen Körnern und Brotkrumen.

Es war nicht immer so trist hier gewesen. Das hatte man ihm zumindest erzählt und die Wissenden hatten wohl recht damit. Damals, als sie noch hier gelebt hatte – die Ketzerin, die gebetet hatte – waren viele Menschen nach Minoor gekommen, damit sie ihnen mit ihren Kräutersalben half. Jetzt versank die Stadt in Krankheiten und nur die Wissenden wussten, woran das lag. Die Kirche mochte die Schuld auf sie schieben und sie verfolgen, doch verbessern würden sie die Situation damit nicht.

Die Wissenden waren nicht die Ursache für die Seuchen der letzten Jahre, sie waren alleinig die Wissenden.

 

„Maana!“, rief mein Großvater. „Maana, ich habe noch eine dringende Sache zu erledigen. Geh nicht aus den Haus, während ich fort bin und lass niemanden hinein!“

„Ja, Großvater“, murmelte ich in die Schrift vertieft. „Ich kenne Eure Regeln!“

Irgendwo im Hintergrund meiner Gedankenwelt realisierte ich das Zuschlagen der Tür, danach eine Stille, die es nur in Häusern geben konnte, in denen man alleine war.

Ich las die Schrift zu ende, um mich dann um das Feuer in der Herdstelle zu kümmern. Das Knistern und Knacken des brennenden Holzes und die Wärme der Flammen gaben mir ein sicheres Gefühl. Das Feuer half mir immer, wenn ich alleine war. Es ließ mich meine klammheimliche Angst vergessen. Ich mochte keine verlassenen Räume, sie erinnerten mich an den Tod. Das Feuer, es war unlogisch, dass gerade das Feuer mir helfen konnte...

Seufzend stocherte ich im halb verbrannten Holz herum, um dann neues nachzulegen und die Schrift wegzuräumen.

Mein Großvater hatte viele Regeln und einige davon waren derartig seltsam, dass ich mich selbst nach Jahren ihrer Ausführung noch über sie wunderte. Erklärt hatte er sie mir nie. Ich brauchte nicht wissen, wozu sie gut waren, ich musste sie nur befolgen. Und das tat ich.

Die Schachtel mit den Schriften meines Großvaters befand sich unter einem losen Bodenbrett in der Ecke seiner winzigen Schlafkammer. Niemand, so hatte er mit befohlen, durfte jemals von ihr erfahren. Sie war sein Heiligtum und nur eine seiner anderen Regeln – dass ich lesen und schreiben können musste, obwohl ich aus der untersten Schicht dieser Stadt stammte und zudem noch Waise war – ermöglichte es mir, sie zu sehen. Ansonsten hätte ich wahrscheinlich nie gewusst, dass es sie gab, und ohne die Schriften hätte ich die Wahrheit nie erfahren.

 

„Bring die Sachen in die Kammer, Maana!“

Ich nahm den Topf von der Kochstelle und trug ihn zum Tisch hinüber. Der ihm entsteigende Duft von Fleisch und Gemüse ließ meinen Magen vor Hunger knurren, doch ich stellte ihn nur ab und griff dann nach dem Jutesack, den mein Großvater eben mit hereingebracht hatte.

Ich warf einen kurzen Blick hinein, während er sich bereits aus dem Topf bediente. Kartoffeln, Gemüse, ein Huhn – es fehlte uns nie an etwas, dabei waren wir bitterarm. Großvater hatte noch nie Geld mit sich nach Hause gebracht.

„Beeile dich! Sonst ist dein Eintopf abgekühlt, bevor du ihn zu essen beginnst!“

„Ja“, sagte ich gehorsam und brachte den Vorrat in die Kammer, in der wir Nahrungsmittel und Kleider aufbewahrten.

„Hast du die Schrift durchgearbeitet?“, fragte er, als ich zum Tisch zurückkehrte. „Sag mir, was du gelernt hast!“

„Ihr habt mit heute wieder eine Schrift über die Kräuterlehre gegeben“, begann ich und wartete darauf, dass er nachfragte, doch er tat es nicht. Stattdessen schob er den Eintopf zu mir herüber, damit ich mir auffüllen konnte. Der köstliche Geruch ließ mich auf meinem Stuhl hin und her rutschen, bis die Schüssel gänzlich gefüllt war. Ein wenig gierig machte ich mich darüber her.

„Es ist sehr wichtig, Maana, dass du dir gut merkst, was du liest. Aber du darfst dein Wissen nie den Falschen preisgeben“, meinte mein Großvater streng und ich nickte, den Mund viel zu voll, um zu antworten. „Es sei denn, du möchtest enden wie deine Mutter! Verstehst du das, Maana?“

Hastig würgte ich den Inhalt meines Mundes hinunter, denn dieses Mal erwartete er die Worte, die ich auf solche Fragen zu antworten gewohnt war. Seine strengen, aber doch warmen Augen verrieten es mir.

„Ja, Großvater. Ich kenne Eure Regeln!“

Zufrieden brummend wandte er sich wieder seiner Schüssel zu, um laut schlürfend weiter zu essen. Mein Großvater war kein Mann erhobenen Gehabes und für mich war das immer die normalere Weise gewesen, sich zu verhalten – besser als die der Reichen und Adligen mit ihren gestelzten Worten, ihren feinen Kleidern, ihren gespielten Mienen, ihrer besseren Stellung im Volk.

Mein Großvater war der einzige, der sich nach dem Tod meiner Mutter um mich gekümmert hatte – fast als wäre ich ein zerbrechliches Gut. Aber vielleicht war ich das für ihn auch.

„Dein Wissen ist wichtig, Maana!“, brummte er mir noch einmal zu. „Vergiss das niemals!“

 

 

 

-2-

 

Das Wasser des Weihers war dunkel und kalt, als es sich um seine Füße wand als wolle es sie für immer verschlucken. Er hatte keinen Schimmer davon, wie tief es hinabgehen würde, bis er die Mitte des Weihers erreichte. Er wusste nur, dass es tief sein musste, wenn das Wasser in diesem warmen Sommer noch derartig kühl war.

Lucaniel machte seufzend kehrt, um sich am Ufer ins saftig grüne Gras zu setzten, ein wenig im Schatten der Bäume. Die Sonne brannte mit stechender Helligkeit auf die Weiherlichtung hinab, nur eine Libelle surrte noch unaufhörlich über die Wasseroberfläche, wohl auf der ständigen Suche nach Insekten.

Ein Knacken zwischen den Bäumen ihm gegenüber ließ ihn aus seiner Verträumtheit schrecken. Sie kam...

Hastig sprang er auf die Füße und

ein harter Schlag traf Lucaniel im Gesicht. Für einen Moment war er derartig orientierungslos, dass Panik in ihm zu wachsen begann. Zitternd erwartete er den nächsten Schlag, doch er kam nicht.

Noch ein wenig vor Schreck keuchend rappelte er sich vom kalten Steinboden auf, um sich gegen das Bett zu lehnen, aus dem er eben gefallen sein musste, als er auf der Traumweiherlichtung aufgesprungen war. Fluchend hielt er sich den schmerzenden Kopf, den er sich bei dem Sturz gestoßen hatte.

Wieso? Wieso hatte er diese seltsam lebhaften und erschreckend realen Träume? Wieso kamen sie wieder, um ihn an dieses Mädchen zu erinnern, das er gar nicht kannte? Maana...

Woher kamen diese Erinnerungen an ihre Stimme, wenn er ihr noch nie begegnet war?

Lucaniel schloss die Augen. Die Stimme, wunderschön melodisch, obwohl sie gleichzeitig noch so kindisch war, hallte in einer fernen Erinnerung in seinem Kopf wieder. Er kannte die Melodie und er war sich sicher, sie selbst summen zu können, doch irgendwie fühlte sich selbst der Gedanke daran, es zu tun, unendlich falsch an.

 

Ich war gerade dabei, den Eintopf des letzten Tages noch einmal über der Herdstelle aufzuwärmen, als ich die Tür schlagen hörte.

„Großvater?“, rief ich munter. „Seid Ihr schon zurück? Kommt nur in die Küche, ich bin gleich soweit!“

Ich nahm den Holzlöffel vom Tisch, um die aufkochende Mahlzeit umzurühren. Im Wohnraum tat sich nichts. Wahrscheinlich war er gleich in seine Kammer gegangen. Er tat das oft, wenn er nach Hause kam, denn manchmal trug er Dinge bei sich, die ich nicht sehen sollte. Früher, als Kind, hatte ich das ungerecht gefunden – wie Kinder nun einmal waren, mochte ich diese Heimlichtuerei nicht – doch ich hatte mich mit den Jahren daran gewöhnt. Mein Großvater war eigen und es war leichter, ihn auch so zu akzeptieren.

„Großvater!“, rief ich noch einmal. „Der Eintopf ist beinahe warm. Kommt und setzt Euch doch!“

Die darauf folgende Stille lastete so schwer auf meinen Trommelfellen, dass ich den Löffel stirnrunzelnd beiseitelegte und beschloss, nach ihm zu sehen.

Ich brauchte nicht bis zu seiner Kammer gehen, um herauszufinden, dass etwas nicht stimmen konnte. Sie stand auf dem Tisch, die Kiste mit den Schriften, sie stand einfach nur dort – unbewacht und verlassen. Es waren noch alle Schriften gleichzeitig aus der Kammer herausgebracht worden!

„Großvater?“, entwich es mit ängstlich. „Großvater, Seid Ihr da?“

Vorsichtig, als bestände die Möglichkeit, dass die Kiste plötzlich in Flammen aufginge, näherte ich mich ihr und entdeckte dabei den zusammengefalteten Zettel auf ihrem Deckel. Mit vor Angst bebenden Fingern griff ich danach, mit der erschreckend starken Gewissheit, er wäre für mich bestimmt.

Inhalt

16. Jahrhundert: Seit ihre Mutter vor einem Jahrzehnt als Ketzerin auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, lebt Maana bei ihrem Großvater, der sie vor der Öffentlichkeit versteckt hält und sie das Lesen und Schreiben lehrt. Weshalb er dieses tut, ist der naiven und weltfremden Maana zunächst ein Rätsel, bis er eines Tages verschwindet und sie von der geheimen Heilerorganisation der Wissenden aufgenommen wird, der einst auch ihre Mutter und ihr Großvater angehörten. Dort lernt sie Lucaniel kennen, einen Jungen ihres Alters, der ihr steter Begleiter und Beschützer in den Gewölben der Wissenden wird, die sie kaum verlassen darf. Lucaniel, einst Prinz der Stadt, doch von seinen Eltern verstoßen, als ein besserer Thronfolger geboren wurde, und Maana verlieben sich ineinander, doch der Meister der Wissenden untersagt ihnen diese Beziehung und eröffnet ihnen, dass sie in Wirklichkeit Geschwister sind.

Doch weshalb hat Lucaniel seit vielen Jahren wiederkehrende Träume von der ganz jungen Maana und aus welchen Gründen ist Maanas Großvater aus der Stadt verschwunden?

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© Arina Kirey 2015