Ich und Ich verträgt sich nicht

Leseprobe

Normalerweise beginnt eine Geschichte damit, dass etwas geschieht.

Die Hauptperson gerät in Schwierigkeiten, verliebt sich oder wird vor eine große Aufgabe gestellt, von der sie glaubt, dass sie sie niemals erfüllen wird. Dann folgt eine lange Zeit, in der die Hauptperson kämpft, ihre Liebe erwidert wird, eine on-off-Beziehung, weitere Schwierigkeiten, ein Gegenspieler vielleicht – und schließlich ein glückliches Ende, alle liegen sich vor Freude weinend in den Armen und die Welt ist ein Paradies.

Aber meine Geschichte wird anders sein, denn in ihr bin ich die Hauptperson – ich und Ich – und genau deshalb beginnt meine Geschichte auch damit, dass wirklich gar nichts geschieht. Um genau zu sein: Meine Geschichte beginnt mit einer gnadenlosen Leere.

Es ist nicht leicht, dieses Gefühl von Gefühlslosigkeit zu beschreiben – ganz einfach deshalb, weil da einfach nichts in einem ist, das ich beschreiben könnte. Kein einziger Gedanke im Kopf, die Augen weit geöffnet und doch sieht man nichts, stundenlang in derselben Position, keine Bewegung außer dem Lidschlag und dem Heben und Senken des Brustkorbes. Gleichgültigkeit, Desinteresse, Trägheit, nichts stößt zu einem vor, kein Laut wird als solcher registriert. Der Körper gehört nicht mehr zu einem, die Welt gehört nicht mehr zu einem – man selbst gehört nicht mehr zu sich, denn in diesem Augenblick existiert man für sich selbst nicht mehr. Man ist nur noch eine Hülle, gefühlstot, gedankenlos, ohne Seele.

 

Die Puzzleteile klackerten leise, während ich eines nach dem anderen herumdrehte und in die verschiedenen Boxen warf, die ich zum Sortieren benutzte. Das Puzzle, eine alte Weltkarte, war noch am Anfang und zusätzlich schwer zusammenzusetzen, aber das machte mir nichts aus – ich hatte Zeit, viel Zeit.

Es war nicht so, dass puzzlen eine meiner Lieblingsbeschäftigungen war – ehrlich gesagt konnte ich nicht einmal sagen, ob ich überhaupt eine richtige Lieblingsbeschäftigung hatte – doch es war ein angenehmer Zeitvertreib. Niemand würde sich etwas dabei denken, wenn er in mein Zimmer käme und mich nach Stunden noch beim Sortieren kleiner Puzzleteile erblickte, im Gegensatz dazu, wenn er mich am Schreibtisch fände, wie ich regungslos ins Nichts starrte.

Mein Kopf war leer, seit Tagen schon dachte ich an gar nichts, ich was gefangen in einer gefühlslosen Welt, in der mir alles gleich war. Zu puzzlen war genau deshalb die perfekte Beschäftigung – ich musste dabei nicht nachdenken, mein Körper arbeitete von selbst. Wenn ich ein Teilchen in die Hände nahm und in eine der Boxen warf, wusste ich nicht einmal direkt im Anschluss, was ich darauf gesehen hatte. Ich funktionierte einfach, dazu brauchte ich nicht beseelt zu sein und niemand würde bemerken, dass etwas nicht stimmte.

Es war Freitagnachmittag. Ich hatte eine anstrengende Woche hinter mir und es konnte nicht verwunderlich sein, dass ich vollkommen erschöpft war. Ich hatte mich wohl überarbeitet, vielleicht waren sechs Stunden Arbeit am Tag, Sport und der noch nicht gänzlich abgeklungene Abiturstress doch ein wenig viel… Nein, es erschien mir nicht im geringsten seltsam, dass ich bis auf das letzte Fünkchen Kraft ausgelaugt war.

In dem Moment riss mich eine Sms aus meiner Trance. Ich griff nach dem vibrierenden Handy und öffnete die Nachricht.

Hey. Heute filmabend bei mir. Kommst du? Tim

Klar:), tippte ich. kommt Nils auch? wann ist anfang? :)

20.00 meinst du nicht das deine kontaktmöglichkeiten meine um längen überschreiten wenn es um deinen eigenen freund geht?, kam zurück und ich seufzte grimmig.

Er hat kein handy?,tippte ich. Und ans festnetz geht keiner. habs vorhin versucht :(

Ok. Wollte eh noch bei ihm vorbeifahren. Er kommt sicher. Bis später.

 

Nils kam nicht.

„Er hat gesagt, er würde kommen“, entschuldigte Tim sich kleinlaut bei mir und ich glaubte ihm sogar. Ganz einfach deshalb, weil ich inzwischen drei Jahre mit Nils zusammen war und nur zu gut wusste, wie unzuverlässig er sein konnte.

„Schon gut“, meinte ich, dabei war das gelogen. Ich kannte Tims Freundeskreis kaum und unglücklicherweise fühlte ich mich in der Gegenwart von Menschen, die ich nur halbwegs kannte, überhaupt nicht wohl.

„Hauptsache er kommt morgen zu unserem Treffen in der Stadt!“, fuhr ich fort, zuckte mit den Schultern und zwang mich zu einem überzeugenden Lächeln, auch wenn ich Tim dabei nicht direkt ansehen konnte, was allerdings nicht neu für mich war.

„Klar“, ermutigte er mich und klang dabei, als müsse er Nils in Schutz nehmen. „Kannst auf meiner Couch pennen, damit du nicht um zwölf Zuhause sein musst, wenn du willst.“

„Danke. Ich überlege es mir.“

Es wurde ein grauenhafter Abend. Wir sahen mehrere Filme, dicht beieinander auf die Couch gedrängt, Schulter an Schulter, nicht genügend Freiraum, um die Hände so zu platzieren, dass es nicht unangenehm war. Zwischendurch Gespräche, Witze, mehrere Bier, eine Mische, ein Kuss auf die Wange, weil ich ja unendlich süß sei. Ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte, wie ich mich an den Gesprächen beteiligen konnte, wie ich reagieren sollte, welche Mimik passend war, wann ich lachen musste, wie ich den anderen in die Augen sehen konnte. Mit einem Mal war mir alles fremd, sogar Tim, und ich hoffte nur noch, dass es bald vorbei sein würde.

 

Der Regen prasselte in einer monotonen Melodie der Einsamkeit auf das Fenster in der Dachschräge herab, während der aufkommende Wind daran rüttelte. Tief in das Bett vergraben lauschte ich dem Wetter und konnte gleichzeitig das Gefühl der Kälte nicht mehr abschütteln, obwohl mir unter der dicken Winterdecke hätte heiß sein müssen.

Das hier war nicht mein Bett, darin lag das Problem, und eigentlich war es auch vielmehr eine Ausziehcouch, Tims Ausziehcouch. Und vielleicht war auch das der Grund, weshalb ich nicht hatte einschlafen können – ich gehörte nicht hierher, zumindest nicht über Nacht.

Tim war mein bester Freund und auch der von Nils, was allerdings nichts daran änderte, dass Tim seit langer Zeit in mich verliebt war. Das war kein Geheimnis, auch wenn er es mir gegenüber nie ausgesprochen hatte. Ich konnte es in seinen Blicken lesen, jedes seiner an mich gerichteten Worte verriet ihn durch seine viel zu sanfte Stimme. Doch ich vertraute ihm, gerade weil er mein bester Freund war. Außerdem würde er einem seiner Freunde niemals die Freundin ausspannen. So etwas war gegen seine Prinzipien.

Ich drehte mich auf die andere Seite herum. Im schwachen Morgenlicht, das bereits durch das kaum abgedunkelte Fenster fiel, konnte ich ihn in seinem Bett auf der anderen Seite des Zimmers gerade noch erkennen. Es war nicht so, dass ich mich unwohl fühlte, weil er in mich verliebt war, nein, da vertraute ich ihm vollkommen. Ich fühlte mich unwohl, weil ich selbst nicht sagen konnte, was ich eigentlich für Tim empfand. Vor knapp drei Jahren, damals, kurz bevor ich mit Nils zusammen gekommen war, damals war ich auch in Tim verliebt gewesen und er wusste das. Doch Nils hatte ich genauso geliebt – und mich für ihn entschieden…

Tim seufzte im Schlaf und ich schloss vorsichtshalber die Augen. Nicht, dass er aufwachte und mich dabei erwischte, wie ich ihn beobachtete. Aber er wachte nicht auf, im Hof jammerte eine Katze, ich lauschte auf den Regen. Nach einer Weile entschloss ich, dass es keinen Sinn mehr hatte, liegen zu bleiben, und begann mich leise anzuziehen. Ich konnte nicht bis zum Frühstück bleiben, das wagte ich mich nicht – ich hatte es in den letzten Jahren immer geschafft, Tim möglichst wenig zu begegnen, so kurz wie möglich allein mit ihm zu sein. Wie gesagt, ihm vertraute ich, mir nicht.

„Was ist los?“

Erschrocken sah ich auf. Tim hatte sich aufgesetzt, schien jedoch nicht wirklich wach zu sein.

„Ich gehe jetzt“, meinte ich nur und knöpfte eilig die Jeans zu. „Es ist schon acht.“

„Mhm“, brummte er und ließ sich in die Kissen zurücksinken. „Du kannst die Sachen so liegen lassen, das mach ich nachher schon.“

„Danke!“

Es klang unsicher und doch zutiefst dankbar. Schnell zog ich mir den Pullover über und griff nach meiner Tasche.

„Kein Ding“, murmelte Tim noch, dann war ich aus seinem Zimmer.

 

Auf der Straße erwartete mich trübe, kalte Luft und ich ärgerte mich ein wenig, dass der Regen meine Brille derartig beschlagen ließ, dass ich kaum noch etwas sah, während ich mich auf mein Fahrrad schwang und losfuhr.

Das zwischen Tim und mir – falls man überhaupt behaupten konnte, dass da jemals etwas gewesen war – lag inzwischen drei Jahre zurück und ich fragte mich manchmal, ob ich mir seine Gefühle für mich nur einredete, weil ich mir wünschte, dass sie noch immer unverändert waren. Aber in Wirklichkeit hatte ich Angst davor, zu erfahren, was er tatsächlich fühlte. Nicht, dass es mich gestört hätte, wenn er mich nicht mehr liebte – nein, ich hatte Angst davor, dass es nach all der Zeit noch so war, weil ich nicht wusste, wie ich dann reagieren würde.

Die Straßen der Stadt waren leer, nicht einmal Bussen begegnete ich. Es war Samstag, ein verregneter noch dazu, und kaum jemand war so früh schon unterwegs. Ich mochte das, beinahe hatte ich das Gefühl, allein auf dieser Welt zu sein, der einzige Mensch, der in dieser Stadt noch lebte und irgendwie gefiel mir dieser Gedanke. Es musste wohl daran liegen, dass ich seit jeher eher ein Einzelgänger war. So traurig es auch klingen mochte, aber ich glaubte, dass niemand mich wirklich so verstand, wie ich tatsächlich war. Ob das nun daran lag, dass ich tief in meinem Innersten einfach viel zu kompliziert und tiefsinnig war, oder daran, dass ich mich gegenüber anderen Menschen – selbst Nils gegenüber – als eine vollkommen andere Person ausgab, das sei einmal dahingestellt. Ich war nicht die Karin, für die mich alle hielten, ich war anders, ganz anders.

Zuhause angekommen schälte ich mich aus den nassen Sachen und kroch in mein Bett. Endlich meine eigene Decke, meine Kissen, mein Geruch. Doch nach der Fahrt durch den Regen war ich nun endgültig aufgewacht und die Müdigkeit kehrte auch nach einigen Minuten nicht zurück – vielleicht auch deshalb, weil meine Eltern auf der Terrasse unter meinem Fenster ununterbrochen von meinem großen Bruder reden hörte und allein der Gedanke an ihn war derartig störend, dass ich niemals einschlafen könnte.

Mies gelaunt, immerhin hatte ich nach dem Filmabend nicht eine Minute geschlafen, machte ich mir einen Kaffee und setzte mich an mein Netbook, doch so früh war auch im Internet keine Ablenkung zu finden.

Dass mich die Begegnungen mit Tim jedes Mal von neuem aufkratzten, war ich inzwischen gewohnt, doch heute war es besonders schlimm. Immerhin hatte ich bei ihm geschlafen. Doch dass mich das so sehr zum Nachdenken zwang, ärgerte mich.

„Das zwischen uns beiden ist jetzt so lange her, da kann einfach nichts mehr sein“, redete ich mir ein und fühlte mich schlecht dabei. Weshalb bekam ich nur ein derartig schlechtes Gewissen davon, ihn zu sehen? Das machte mich krank, schon weil ich es mir selbst zuzuschreiben hatte. Ich wusste, dass ich damals etwas kaputt gemacht hatte – bei Tim, bei mir, zwischen uns – und dass es damals einfach nicht anders ging, war kein großer Trost dafür, einen geliebten Menschen verletzt zu haben.

Inhalt

Eigentlich hat Karin alles, um glücklich zu sein: Ein gutes Abitur, den Platz an der Wunschuniversität und gleich zwei gut aussehende junge Männer, die sie aufrichtig lieben. Nur genießen kann sie all das nicht, denn Karin vertraut kaum jemandem – am Wenigsten sich selbst. Dass ihr abweisendes Verhalten einsam und verletzlich macht, ist ihr auf eine gewisse Weise sogar ganz recht.

Karin lebt ein Leben an der Grenze zwischen sich selbst – sie leidet an Borderline.

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© Arina Kirey 2015