Federfluch

Leseprobe

Am Anfang existierten zwei Arten von Menschen.

Jene, die gut waren, aber in sich böse,

und jene, die böse waren, aber in sich gut.

Um ein Gleichgewicht zwischen diesen zwei Arten herzustellen,

schuf die Natur eine dritte Art von Menschen

und gab ihr ein besonderes Gen.

 

Dieses Gen würde sie im Laufe ihrer Jugend zu dem machen,

was ich nun bin.

 

 

 

Prolog

 

Der Engel sah mich aus seinen wunderbar geheimnisvollen Augen an und das weiche Lächeln zitterte kaum merklich auf seinem Gesicht, als würde ihm mein Staunen nicht behagen. Er stand dort, unbewegt gütig, die Hände stets für einen Segen bereit, die kräftigen Schwingen ein wenig zum Körper angewinkelt, sodass er nicht allzu viel Raum einnahm, und obwohl ich wusste, dass es ungehörig war, trat ich bis an das Gitter der Nische vor, um diesem edlen Geschöpf so nah wie möglich zu sein.

Es war das erste Mal, dass ich einem Engel begegnete. Bis zu diesem Weihnachtsfest hatte die Stadt keinen besessen, doch in den letzten Jahren war derartig viel gespart und gesammelt worden, dass er nun hatte bezahlt werden können – ein heiliges Wesen, auf ewig dazu verdammt, von diesem Seitenschiff aus die Kathedrale erstrahlen zu lassen.

Ich war allein unter der großen Kuppel. Die Messe hatte vor einiger Zeit geendet und meine Eltern hatten nicht bemerkt, dass ich zurückgeblieben war. Ich hatte ihn sehen wollen, nicht nur von den Holzbänken weiter hinten aus, wo wir gesessen hatten.

„Wie heißt du, kleines Mädchen?“, sprach er mich plötzlich an und ich zuckte ertappt zurück, nur, um dann noch näher heranzukommen.

„Phoebe“, antwortete ich zaghaft, streckte die Finger nach dem Gitter aus und zog mich auf den Sockel hinauf, auf dem es angebracht war. „Fühlst du dich da drinnen wohl, Herr Engel?“

Das Lächeln flackerte, dieses Mal ein wenig stärker als zuvor, doch es blieb auf seinen Lippen kleben, während er sich zu mir hinab beugte und das Rascheln seiner Schwingen die Kathedrale mit einem unheimlichen Wiederklang seiner selbst erfüllte.

„Phoebe, die Strahlende, wie viele Jahre zählst du heute?“

„Sieben.“

Ich mochte seine Stimme. Sie war warm und tief wie die meines Vaters, nur um einiges melodischer und er schien mir nicht böse zu sein, dass meine Neugierde mich ihm so nah gebracht hatte.

„Darf ich dich anfassen, Herr Engel?“, fragte ich deshalb etwas mutiger und er hielt mir seine geöffnete Hand entgegen, sodass ich meine hineinlegen konnte. Im selben Augenblick wurden hinter mir eilige Schritte laut. Wahrscheinlich hatte einer der Messdiener mich entdeckt oder meine Eltern hatten mein Fehlen schon bemerkt und waren zurückgekehrt, um mich zu suchen. Sicherlich würde ich eine Strafe bekommen, doch als ich mich umdrehen wollte, umschloss der Engel meine Finger mit seinen, als wolle er mich nicht gehen lassen, und als ich voller Erstaunen zu ihm aufsah, löste sich eine einzelne Träne aus seinen eisblauen Augen.

 

 

Ankunft

 

Ich schlug die Seitentür des Autos hinter mir zu und blickte zu dem alten Gemäuer am Ende der Einfahrt hinauf. Der helle, sehr massiv wirkende Stein der dicken Mauern leuchtete fast weiß im Licht der Sonne, sodass es schwerfiel, ihre Ausmaße auszumachen. Das war es also, das abgelegene Klosterinternat, das für die nächsten zwei Jahre mein Zuhause sein sollte. Zu meiner Enttäuschung war es nicht ein Stück anders als ich es mir vorgestellt hatte, alt und mächtig – wie ein Vorzeigeklischee. Ich vermisste das Kleinstadttreiben von Weston Colville bereits jetzt.

„Du meldest dich doch ab und an bei uns, nicht wahr, Schatz?“, bat meine Mutter durch das heruntergefahrene Fenster der Fahrerseite und ich nickte, auch wenn ich dabei keinen sonderlich überzeugenden Gesichtsausdruck zustande brachte. Das hier war nicht meine Idee gewesen. Es war nun einmal Gesetz im Weltreich, dass man in seinem achtzehnten Lebensjahr auf ein Internat kam. In den Städten gab es davon keine, ganz als wolle die Regierung sicherstellen, dass man in diesen zwei Jahren möglichst wenig sozialen Kontakt nach außen hatte. Offiziell wurde uns das als verbesserte Lernbedingungen als Vorbereitung auf die Universität dargestellt, aber noch glaubte ich nicht ganz daran.

„Also dann!“, seufzte sie. Der Abschied fiel ihr deutlich schwerer als sie zugeben wollte. „Viel Glück und lass von dir hören!“

„Mache ich“, versicherte ich und beugte mich hinunter, um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken. „Ich rufe dich an.“

Sie lächelte tapfer, wendete das Auto und winkte mit einem Arm aus dem Fenster, bis die Straße eine Kurve machte und sie im Wald verschwand.

Ich wandte mich zum Kloster um, dessen alte Mauern noch immer im Sonnenlicht glänzten als sollten sie seine Heiligkeit bekräftigen. Es hieß, dieses Internat sei einst derartig reich gewesen, dass es einen eigenen Engel besessen hatte, doch ich bezweifelte, dass er noch lebte und selbst wenn er es noch tat, dann war er sicherlich alt und hatte an Glanz verloren.

Mit dem unguten Gefühl des Neuseins, das sich irgendwo in meiner Magengegend zu einem Kribbeln einfand, hob ich meinen Koffer vom Boden hoch. Ob Engel oder nicht, diese ehrfurchtserheischend dicken Mauern würden mich für zwei elende Jahre gefangen halten – genau wie das Weltreiches es befahl.

 

Die Luft in der Eingangshalle war kalt und muffig als sei die Eingangstür seit dem letzten Schuljahresbeginn nicht mehr geöffnet worden. In einer Ecke stapelte sich bereits das Gepäck anderer Neuankömmlinge, aber niemand war zu sehen. Ich warf einen schnellen Blick auf mein Handy und verfrachtete den Koffer auf den Haufen der anderen, bevor ich mich suchend nach etwas wie einem Empfangsschalter umsah, den es natürlich nicht gab. Stattdessen entdeckte ich einen schmalen Gang, der tiefer in das Gebäude hineinführte. Noch einmal sah ich auf mein Handy. Nein, ich war nicht zu spät. Ein aufklärender Empfang schien hier also nicht üblich zu sein.

Kurzentschlossen betrat ich den Gang. Von seinem Ende schien mir freundliches Licht entgegen und ich konnte das Murmeln von Stimmen vernehmen. Wahrscheinlich war dort ein Aufenthaltsraum, in wir uns sammeln sollten, bis jedem ein Zimmer zugewiesen wurde. Das zumindest würde die Koffer in der Eingangshalle erklären. An seinem Ende erreichte ich eine dunkle Holztür. Sie war so alt und massiv, dass sie von großen Eisennägeln zusammengehalten wurde, die mit roher Gewalt hineingetrieben worden sein mussten, denn ihre Köpfe waren von den Hammerschlägen verformt. Dahinter waren die Stimmen nun deutlicher zu vernehmen, viele Stimmen, und trotzdem warf ich noch einen letzten Blick über die Schulter zurück. Die Atmosphäre dieser Mauern machte mich jetzt schon nervös – wie sollte ich das zwei Jahre lang aushalten? Mit einem leisen Seufzer richtete ich mich zu voller Größe auf und griff nach dem Türgriff. Es nutzte nichts, sich darüber aufzuregen, denn ändern konnte ich es ja doch nicht. Dann trat ich ein.

„Guten Tag!“

Die etwas versteift wirkende Nonne, die direkt hinter der Tür nur darauf gewartet zu haben schien, dass jemand hereinkam, zückte einen Stift und fuhr damit eine lange Namensliste in ihrer anderen Hand entlang, bis sie plötzlich innehielt, aufsah und einen abschätzenden Blick über mein Gesicht wandern ließ.

„Sie sind Phoebe Gordon?“, fragte sie, hatte allerdings den Haken auf ihrer Liste bereits gesetzt. „Wir haben auf Sie gewartet. Es ziemt sich nicht, in der letzten Minute einzutreffen! Hinein mit Ihnen, suchen Sie sich schon einen Platz, damit wir anfangen können!“

Von der Autorität ihrer Stimme vollkommen eingeschüchtert befolgte ich ihren Befehl, ohne auch nur ein einziges Wort gesprochen zu haben und vielleicht wanderten ihre Augen mir gerade deshalb kritisch hinterher, weil ich nicht einmal gegrüßt hatte.

Entsprechend dem großen Haufen an Koffern, der sich in der Eingangshalle auftürmte, waren viele Jugendliche hier – zu viele, um alle in dieses Kloster passen zu sollen, aber die Nonnen würden schon wissen, wie viele sie bei sich aufnehmen konnten. Wahrscheinlich gab es hinter dem alten Gemäuer ein neueres Wohnhaus für die Schüler, das man von der Einfahrt aus nicht sehen konnte. Solange ich ein eigenes Bett bekam, war es mir egal, mit wem ich mir den Raum teilen musste. Ich war ein umgänglicher Mensch.

„Und?“, sprach mich meine Nachbarin an, kaum dass ich mich möglichst weit hinten an einen Tisch mit freiem Platz gesetzt hatte. „Glaubst du, du wirst ausgewählt? Es heißt ja, nur die Besten dürften bleiben.“

Mit hochgezogenen Brauen musterte ich sie, doch ihr eigebildetes, von kurzen blonden Locken umrahmtes Gesicht verriet mir leider auch nicht, was sie von mir hören wollte und so schüttelte ich den Kopf.

„Tut mir Leid, aber wovon sprichst du bitte?“

„Na, die Auswahl durch den Engel!“, antwortete sie in einem Tonfall, der mir eindeutig zeigte, dass sie mich für dumm hielt, außerordentlich dumm sogar. Zu meinem Unbehagen verstummten dadurch schlagartig sämtliche Gespräche an unserem Tisch, damit ich unverhohlen angestarrt werden konnte.

„Ach, das meinst du“, brachte ich hastig hervor, während meine Wangen heiß vor Scham wurden, denn ich hasste es, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Zwar hatte ich noch immer keine Ahnung, wovon sie sprach, doch wenigstens wandten sich die neugierigen Gesichter wieder von mir ab. Erleichtert atmete ich auf.

„Und? Glaubst du, du wirst ausgewählt?“, wiederholte sie ihre Frage in exakt demselben Tonfall wie zuvor. „Ich habe in den letzten Jahren drei wichtige Wissenschaftspreise für Erstschüler gewonnen. Ich denke, meine Chancen stehen gut.“

„Kann schon sein, dass ich gewählt werde“, behauptete ich dreist, um mehr selbstverherrlichendes Gerede zu vermeiden, was sie mir übel zu nehmen schien, denn sie rümpfte die Nase und wandte sich mit einem letzten überheblichen Blick von mir ab.

Vielleicht hätte ich mich über dieses Internat informieren sollen, bevor ich mich auf Anraten meiner Eltern hin blindlings eingeschrieben hatte. St. Angelus – es war der Name gewesen, der mich angezogen hatte und zumindest von ihm her ergab es einen Sinn, dass es nun auch noch eine Auswahl der Besten durch einen Engel geben sollte – zu denen ich ganz sicher nicht gehören würde. Wenn ich auch nur irgendeine Besonderheit aufweisen konnte, dann die, dass ich vollkommen durchschnittlich war, sowohl vom Aussehen, als auch in den Schulnoten.

„Dürfte ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten!“

Die steife Nonne von der Tür, sicherlich die Äbtissin, hatte sich mit ihrer Namensliste vor den Tischen aufgebaut und ließ ihre strengen Augen durch den Raum wandern, bis auch das letzte Gespräch dadurch zum Verstummen gebracht worden war.

„Sie alle haben sich im St. Angelus des ehemaligen Englands, der für seine Leistungsstärke im gesamten Weltreich bekannten Klosterschule, eingeschrieben, um Ihr jeweils Bestes zu leisten.“

Zustimmendes Murmeln und Nicken lief durch die Reihen der anderen, doch sie hob eine Hand und sofort war es wieder still. Ein Schauer des Unwohlseins überkam mich. Weshalb hatten meine Eltern darauf bestanden, dass ich hierher kam, wenn es eine Eliteschule war? Sie wussten doch, wie schwer ich mich mit dem Lernen tat. Wollten sie mich für meine Mittelmäßigkeit bestrafen? Und wie hatte ich es mit meinen Noten überhaupt bis zu dieser Auswahl geschafft? Es gab doch sicherlich Aufnahmekriterien, die ich nicht erfüllte – irgendwer musste einen Fehler gemacht haben. Ich gehörte nicht hierher, das war offensichtlich. Konnte man das Internat eigentlich nach Beginn der zwei Jahre noch wechseln?

„Ich werde Sie in kleinen Gruppen zu mir bitten, damit Sie sich der Auswahl des Engels stellen können. Jene, die nicht erwählt werden – und ich versichere Ihnen, das werden die meisten von Ihnen sein – werden im Anschluss in unser Ordensinternat mit niedrigeren Standards gebracht werden, das einige Meilen von diesem Ort entfernt liegt. Kommen Sie bitte nach vorne, wenn ich Ihren Namen aufrufe.“

Inhalt

Eines ist sich die siebzehn jährige Phoebe Gordon sicher: Sie ist das durchschnittlichste Mädchen ihres Alters, das es im Weltreich des 24. Jahrhundert gibt. Das einzig Aufregende, das ihr bisher widerfahren ist, ist die Begegnung mit einem weinenden Kirchenengel. Als sie jedoch an dem berühmten Eliteinternat St. Angelus als einer von lediglich zwei Schülern angenommen wird, muss sie feststellen, dass hinter der Fassade des Klosterinternats furchteinflößende Geheimnisse gehütet werden und in ihr selbst etwas erwacht ist, was besser verborgen geblieben wäre.

 

 

 

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