Das letzte Tor der Welten

Leseprobe

-1-

 

Der Vorhang flatterte leise im warmen Juliwind, der noch ein wenig Erfrischung an den heißen Sommertagen des Jahres brachte, und obwohl Johanna am Abend zuvor das Fenster verdunkelt hatte, schien ihr die Morgensonne ins Gesicht.

Gähnend schwang sie sich aus dem Bett, um den Vorhang beiseite zu ziehen und das Fenster zu öffnen. Obwohl es noch recht früh am Morgen war, roch die Luft schon nach einem heißen Tag und eine elektrisierende Spannung lag in ihr, ganz als würde es noch ein Gewitter geben.

Mit einem tiefen Atemzug rekelte Johanna sich und warf einen Blick in den Garten hinab. Dies hier war nicht irgendein Tag wie jeder andere, der zuvor gewesen war, und vielleicht würde sie den Ausblick über die saftige Wiese und die ordentlich gepflegten Blumenbeete ihrer Mutter nicht allzu bald wieder genießen können, wenn überhaupt jemals wieder.

Dass Johanna Wächterin werden würde, war seit ihrer Geburt vorherbestimmt gewesen. Damals, vor genau sechzehn Jahren, war ihr Vater Wächter der Welten gewesen  sie trug das Blut der letzten existierenden Wächterfamilie in sich. Sie war die Letzte, die übrig war.

Der Wächter der Welten schützte die Menschheit vor den unreinen Wesen, die seit ewig vor ihrer Welt auf die Menschenwelt kamen, auf der reine Wesen und Menschen in Einklang lebten. Deshalb lief seit Generationen von Wächtern die verzweifelte Suche nach den dreizehn Toren in die Welt der unreinen Wesen. Zwölf dieser Tore waren verschlossen worden, doch durch eines kamen immer wieder neue Wogen von grauenhaften Kreaturen auf die Menschenwelt. Johannas Vater hatte sich ein Jahr nach ihrer Geburt auf die Suche nach diesem letzten Tor begeben und war nie zurückgekehrt. Es war das Schicksal vieler anderer Wächter und Wächterinnen vor ihm gewesen und es würde wohl auch ihr eigenes sein. Sie glaubte nicht daran, das Tor finden zu können. Sie war nicht reif und erfahren genug dazu.

Es war nicht üblich, eine minderjährige Wächterin zu ernennen, denn normalerweise begann mit dem 17. Lebensjahr eine zweijährige Ausbildung, in der den Anwärtern dieses Amtes das Kämpfen und Überleben  und die Magie  gelehrt wurde. Johanna aber sollte ihre Aufgabe ohne diese Ausbildung antreten, ohne Kampfkunst, ohne Magie. Nein, sie machte sich keinerlei Hoffnung, erfolgreich sein zu können.

Sie wandte sich dem Spiegel an der Kleiderschrankfront zu und ihre grünen Augen blickten müde zurück. In der letzten Nacht hatte sie nur wenig Ruhe gefunden, woran nicht nur die Hitze schuld war, sondern auch die Aufregung auf diesen Tag, an dem sie in ihr Amt eingesetzt werden sollte. Der Hohe Rat würde ihr das Recht überreichen, das  soweit Johanna wusste  ein magisches Amulett war, das bereits Generationen von Wächtern auf ihrem Weg Kraft gegeben hatte.

Gerade, als sie den Kleiderschrank öffnen wollte, ging die Zimmertür auf und ihre Mutter Theresa kam herein.

„Guten Morgen, Schatz! Und alles Gute zum Geburtstag!“, flötete sie, dabei wusste Johanna nur zu genau, dass sie noch viel größere Angst vor diesem Tag hatte als sie selbst.

„Guten Morgen“, erwiderte sie, während Theresa sie fest in den Arm nahm.

„Im Wohnzimmer ist Besuch für dich! Geh am besten gleich runter“, sagte sie und schob Johanna, ohne eine Antwort abzuwarten, auf die Treppe. Während sie hinunter ins Wohnzimmer stiegen, musterte sie das Gesicht ihrer Mutter. Ja, irgendwo hinter dieser fröhlichen Geburtstagsfassade verbarg sich die unbändige Angst, bald auch sie verlieren zu können, und sie fragte sich nicht zum ersten Mal, wie ihre Mutter sie überhaupt gehen lassen konnte, wie sie das fertigbrachte, wie sie das verkraften konnte. Immerhin war ihr eigener Mann auf genau dieser Reise, die ihre Tochter nun antreten sollte, verschollen gegangen und höchstwahrscheinlich sogar gestorben! Wie konnte sie ihre Tochter, noch dazu an ihrem sechzehnten Geburtstag, für eben diese lebensgefährliche Reise freigeben, zwei Jahre eher als erwartet?

Johanna selbst hatte kaum eine Wahl  sie war mit dem Wissen aufgewachsen, eines Tages Wächterin zu werden, und auch wenn sie gerne noch zwei Jahre Vorbereitungszeit gehabt hätte, so wusste sie, dass dies ihre Pflicht war, denn nur Menschen mit Wächterblut konnten das Recht nutzen. Ihre Mutter würde um vieles mehr leiden als sie, dessen war sie sich sicher.

„Cora ist seit einer Stunde da. Wir haben schon über die Zeremonie gesprochen.“

„Cora!“, entwich es Johanna überrascht. „Ist sie nicht beim Hohen Rat? Ich dachte, die ehemaligen Wächter kommen nicht zur Erde zurück, wenn sie sich erst einmal entschlossen haben, im Palast zu leben. Das hat Cora mir selbst erzählt, als wir da waren!“

„Wie sollen wir denn ohne sie zum Hohen Rat gelangen, wenn wir beide keine Magie beherrschen? Sie hat die Erlaubnis bekommen, uns abzuholen, solange sie das Haus nicht verlässt und von niemand Fremden gesehen wird“, entgegnete Theresa und schob sie ins Wohnzimmer, wo ihnen sofort eine junge Frau entgegenkam und Johanna in die Arme schloss.

„Liebes! Seit du klein warst, freue ich mich auf diesen Tag! Heute wirst du endlich die größte aller Aufgaben erhalten!“

„Guten Morgen. Schön, dich zu sehen“, begrüßte sie sie nicht ganz so überschwänglich. Ihr gefiel es nicht, dass sie in dieses Amt hineingeboren worden war. Viel lieber wäre sie Teil einer ganz normalen Familie gewesen.

Cora musterte sie eindringlich von den ungekämmten Haaren bis zu den nackten Füßen und Johanna realisierte erst jetzt, dass sie noch immer ihren Schlafanzug trug.

„Ich denke, wir können gehen. Dein Zeremonienkleid bekommst du im Palast und es wird langsam Zeit für mich, zurückzukehren!“, meinte Cora, und bevor sie reagieren konnte, griff sie nach ihrer Hand. Theresa reichte sie die andere.

„Zum Hohen Rat!“, rief sie dann laut und der Boden verschwand unter ihren Füßen. Ein gleißend helles Licht leuchtete für einen Moment heller als die Sonne und Johanna kniff die Augen zu, bis es erlosch und ein herrlicher Duft von Honig und Milch ihr um die Nase strich. Plötzlich hatte sie wieder festen Boden unter den Füßen und taumelte ein paar Schritte vorwärts, bis sie sich gefangen hatte.

„Willkommen, willkommen, Wächterin der dreizehn Portale!“

„Ach, haltet die Luft an!“, schnitt Cora den hohen Stimmchen das Wort ab, deren Besitzer Johanna zunächst nicht ausmachen konnte.

„Nur, weil du gescheitert bist!“, riefen die Stimmchen erbost und mit wütendem Flügelsummen schwirrte ein kleiner Feenschwarm an ihnen vorbei.

Fasziniert blickte sie sich um  dass sie noch immer ihren Schlafanzug trug, hatte sie vergessen. Sie waren inmitten einer Marmorhalle gelandet, von der zu drei Seiten Türen abgingen. An der vierten Seite lagen zwei große, aus Ebenholz gefertigte Torflügel, die verschlossen waren, und sie fragte sich, was wohl dahinter lag.

„Sieh mal, Johanna! Das hier war meine Mutter“, Cora deutete auf eines der unzähligen Porträts, die zwischen den Türen hingen. „Sie hat vor dreihundert Jahren das zweite Tor geschlossen. Eine ehrwürdige Frau! Leider ist sie danach einem Zwades in die Fänge geraten. Nun ja, das Einzige, was danach noch von ihr übrig war, hätte man in einem Schmuckkästchen aufbewahren können!“

Vor dreihundert Jahren? Erstaunt musterte Johanna erst das Porträt und dann Coras Gesicht. Wie alt war sie, wenn ihre Mutter vor dreihundert Jahren das zweite Tor geschlossen hatte? Würde sie nicht im Palast leben, wäre sie bereits lange tot!

„Was ist ein Zwades?“, fragte sie dann, obwohl sie sich sicher war, dass er unrein sein musste.

„Ein Nachfahr des Megatheriums“, erklärte Cora, als hätte sie es auswendig gelernt. „Das ist ein Riesenfaultier in der Neuzeit gewesen.“

Johanna blickte noch einmal auf das schöne Gesicht der jungen Frau auf dem Porträt und ihr wurde etwas übel, während Theresas Gesicht weiß geworden war  sicherlich nicht nur von der Vorstellung einer in Stücke gerissenen Frau, sondern auch von der Angst, Johanna könnte dasselbe grausige Ende erleiden. Doch Cora sprach rücksichtslos weiter.

„Der größte Unterschied zwischen den beiden ist, dass der Zwades rohes Fleisch anstelle von Pflanzen bevorzugt. Die Zähne dürften auch etwas länger und schärfer geworden sein. Die Zwades sind aber genauso groß wie die Megatherien, also in etwa 5 Meter hoch, wenn sie auf zwei Beinen laufen, und sie können mit einem einzigen Schrei alles Leben im Umfeld von etwa einem Kilometer auslöschen.“

Weiter kam sie nicht, denn eine scharfe Stimme schnitt ihr das Wort ab.

„Cora! Wie viele Erdenjahrhunderte brauchst du noch, um zu verstehen, dass beeilen beeilen bedeutet?“

Alle drei fuhren herum und sahen eine ältere, sehr streng aussehende Dame vor einer der Türen am gegenüberliegenden Ende der Marmorhalle stehen.

„Außerdem habe ich dir verboten, Neuen diese Geschichte zu erzählen! Damit stärkst du nicht gerade ihren Willen, die unreinen Wesen zu bekämpfen, sondern schürst nur ihre Angst!“

„Jaja“, murmelte Cora und verschwand durch eine der Türen hinter ihr, indem sie sie mit einem Ruck aufriss und mit einem Knall, der die Porträts an den Wänden schaukeln ließ, hinter sich zuschlug. Die alte Dame seufzte.

„Cora ist unverbesserlich! Entschuldigt bitte ihr Verhalten. Ich bin Rosa. Als Sie das letzte Mal hier waren, sind wir uns nicht begegnet, Wächterin und Wächterinnenmutter.“

„Sehr erfreut, Sie kennenzulernen! Mein Name ist Theresa Neuberg und wer meine Tochter ist, wissen Sie ja“, stellte ihre Mutter sich vor und legte einen Arm um Johannas Schultern.

„Allerdings, das sollte hier jeder wissen“, entgegnete Rosa mit einem matten Lächeln, das um ihren viel zu schmalen Mund beinahe spöttisch wirkte. Rosa, der Name passte nicht zu ihr. Dabei dachte man an etwas Zartes, Unschuldiges, aber nicht an eine strenge Frau wie diese.

Ihr wurde mulmig zumute. Es war wahr, dass ihre Mutter bereits einige Male beim Hohen Rat gewesen war, sie selbst jedoch hatte diesen Palast erst ein einziges Mal betreten  vor ein paar Monaten, als der Hohe Rat ihr verkündet hatte, dass sie die jüngste Wächterin aller Zeiten werden sollte.

„Es ist Zeit, dass du in die vorgeschriebene Zeremonientracht kommst, damit du dich etwas an das Korsett gewöhnen kannst und nachher nicht wie eine junge Frau mit steifer Wirbelsäule erscheinst, Wächterin!“

Rosa drehte sich wieder zu der Tür um, aus der sie gekommen war, und erwartete anscheinend, dass sie ihr folgte.

„Ich soll ein Korsett anziehen?“

Johanna, die bisher noch kein Wort mit ihr gewechselt hatte, sah sie verständnislos an. Korsetts waren schon lange aus der Mode geraten und wurden nur noch zu medizinischen Zwecken getragen, warum also sollte sie eines anziehen müssen?

„So bestimmt es die Tradition!“, gab Rosa zurück. „Aber sei unbesorgt. Bisher haben es alle Wächterinnen überlebt.“

Sie zwinkerte ihr zu, was sie jedoch auch nicht freundlicher erscheinen ließ, und wandte sich dann an Theresa.

„Der Hohe Rat erwartet Euch im Meditationssaal, Wächterinnenmutter.“

Die Tür zum Meditationssaal war geschlossen. Gerade wollte Theresa anklopfen, als sie von selbst nach innen schwenkte und eine endlose Finsternis offenbarte.

„Kommt herein, Wächterinnenmutter“, ertönte eine ihr bekannte Männerstimme aus dem Dunkel und etwas entfernt der Tür flammte das Licht einer Kerze auf.

Nur zögernd trat sie in den Raum hinein, der zwar nun ein wenig einladender erschien, aber bei Weitem noch nicht hell war.

„Habt Ihr mich kommen hören?“, fragte sie den alten Mann, dessen kurzes weißes Haar im Schein der Kerze rötlich erschien.

„Nein, ich habe Euch kommen sehen“, antwortete der Hohe Rat und bedeutete ihr, es ihm gleich zu tun und sich auf ein Kissen am Boden zu setzen. Respektvoll folgte sie seiner Aufforderung.

„Ihr erinnert Euch doch sicherlich an die Prophezeiung, von der ich Euch letztes Mal berichtet habe? Vergesst bitte nicht, was wir besprochen haben, auch wenn die nächsten Stunden schwer für Euch werden. Ihr dürft Euer Tochter nicht davon erzählen!“

„Sie sind sich sicher, dass noch nie eine Wächterin daran erstickt ist?“, stöhnte Johanna und schnappte nach Luft, als Rosa das Korsett noch enger schnürte und sie endgültig das Gefühl bekam, all ihre Rippen müssten jeden Moment unter dem Druck nachgeben.

„Noch keine einzige“, versicherte sie, lockerte es aber trotzdem ein wenig, bevor sie in einem riesigen, begehbaren Kleiderschrank verschwand und kurz darauf mit einem smaragdgrünen Kleid wieder auftauchte.

„Das passt wunderbar zu deinen Augen“, verkündete sie und stieg auf eine kleine Trittleiter, die vor Johanna aufgestellt war. „Du hast dieselben Augen wie dein Vater.“

„Ja, das sagt man mir oft“, murmelte sie, „aber ich habe keine Ahnung, wie er ausgesehen hat. Meine Mutter will keine Fotos von ihm sehen oder zeigen.“

„Verständlich“, meinte Rosa nur, bevor sie einen befehlshaberischen Ton anschlug. „Arme nach oben!“

Sie ließ das Kleid über ihren Kopf gleiten und seltsamerweise passte es, als hätte sie es mit Magie angepasst und wahrscheinlich hatte sie das auch.

Bewundernd strich sie über den smaragdenen Stoff, der wie Wasser durch ihre Hände glitt und sich wunderbar leicht anfühlte. Währenddessen band Rosa ihr zum Kleid passende Bänder ins schwarze Haar und reichte ihr schließlich Lederschuhe mit Fellfütterung.

„Unter dem Kleid sieht man sie nicht und sie sind gut gegen die Kälte des Bodens“, behauptete sie und deutete auf Johannas nackte Füße. „Du bist sicherlich unsicher, aber das haben alle Wächterinnen und Wächter durchgemacht. Es ist nicht schwer.“

„Schon, aber ich bin die Jüngste von ihnen!“

Sie senkte den Blick, nahm die Lederschuhe entgegen und zog sie hastig an, denn der Steinboden war tatsächlich kühl und ihre Füße fühlten sich bereits ein wenig taub an.

„Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Du bist die Auserwählte des Hohen Rates!“

 

 

Inhalt

Johanna ist keine normale Jugendliche, denn in ihr fließt das Blut der letzten Wächterfamilie der Welten. Dreizehn Tore existierten einst zwischen der Welt der Menschen und einer Parallelwelt, die von unreinen magischen Wesen bevölkert war. Zwölf dieser Tore wurden von Wächtern der alten Wächterfamilien mit der Hilfe des magischen Amuletts, das „Recht“, geschlossen. Nun liegt es an ihr, gerade einmal sechzehn Jahre alt, die lebensgefährliche Suche nach dem letzten Tor zwischen den Welten fortzusetzen, denn sie ist nach dem Verschwinden ihres Vaters die letzte Wächterin.

Foto ©bertys30
Druckversion | Sitemap
© Arina Kirey 2015